Aufruf zu Egoismus – Warum du dich zuerst um dich selbst kümmern solltest

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Egoismus ist verpönt. Wer sagt schon gern: “Ich bin mir selbst am wichtigsten. Erst danach kommen andere Menschen.”? Vielleicht wäre aber allen geholfen, wenn jeder von uns egoistischer handeln würde. Mehr Egoismus kann helfen die Reißleine zu ziehen, bevor du dich völlig verausgabst und in ein Burnout rutschst. Wer mich auf diesen Gedanken brachte und was dahintersteckt, darum geht es in dem heutigen Beitrag.

Erkenntnisse aus einer Psychotherapie

Wenn du dich für dieses Thema interessierst, stehst du vielleicht an einer ähnlichen Stelle wie ich vor einem guten Jahr. Ich musste wegen eines Burnouts eine Auszeit nehmen und fand mich in einem bequemen Sessel meiner Psychotherapeutin wieder (rote Couches sind ein Klischee!). Wie zu Beginn jeder Therapie gingen wir zunächst meine Biografie durch und kamen schließlich bei den ausschlaggebenden letzten Monaten vor der Auszeit an. Ich erzählte von meiner damaligen Arbeitssituation und den Belastungen, denen ich ausgesetzt war.

Mein erstes Learning in Sitzung 1 war: ich sollte dazu stehen, wie es mir geht. Ich sollte meine Gefühle und Bedürfnisse äußern. Also redete ich darüber, wie schlecht ich mich fühlte. Wegen meiner Kollegen, die ich im Stich ließ. Wegen meiner Freunde und der Familie, für die ich nur ein Häufchen überlastetes Elend war. Wegen meiner Beziehung, um die ich mich kaum bemühen konnte. Wegen des Haushalts, den ich vernachlässigte, da mir die Kraft fehlte. Wegen der Menschen, die ich nicht zurückrief, weil ich mich lieber einigelte.

Ich fühlte mich mies, weil ich nicht die war, die ich gern gewesen wäre. Ich war nicht die Jasmin von früher.

Was mir meine Therapeutin daraufhin riet, war ungewohnt. Sie sagte: “Sie müssen sich jetzt erst einmal um sich selbst kümmern.” Damit meinte sie, ich sollte mich nicht zermartern. Vielmehr sollte ich meine Hauptaufgabe, nämlich wieder zu Kräften zu kommen, akzeptieren und an erste Stelle setzen. Dazu sollte ich möglichst ausreichend schlafen, Entspannungsübungen machen, meine Selbstwahrnehmung stärken, lesen, alte Hobbys und soziale Kontakte wieder aufleben lassen sowie lernen Nein zu sagen.

Körper und Geist überdauern Kollegen

“Ihre Kollegen werden im Laufe Ihres Lebens wechseln, aber den Körper und Geist behalten Sie ein Leben lang. Damit müssen sie auskommen.” Dieser Gedanke war mir zu diesem Zeitpunkt neu. Schließlich bemühte ich mich stets für andere da zu sein, Verpflichtungen zu erfüllen, allen gerecht zu werden.

Ist das nicht furchtbar egoistisch?

Doch stattdessen sollte ich nun den Haushalt Haushalt sein lassen, meinen Perfektionismus eindämmen, mir keine Gedanken um meine Kollegen machen und mich selbst an erste Stelle setzen.

Als ich diese Idee mit Freunden diskutierte, bekam ich gemischtes Feedback. Manchen erschien der Gedanke plausibel, aber auch schwer umsetzbar. Andere meinten, dass Egoismus doch keine erstrebenswerte Eigenschaft sei. Dass es der gängigen Erziehung widerspräche.

Dieser Konflikt tauchte auch in meinem Kopf auf. Meine Therapeutin meinte daraufhin: “Sie sind keine Hilfe für andere in Ihrer jetzigen Verfassung.” Das war zwar eine unangenehme Wahrheit, doch sie half mir zu verstehen, warum ich mich schleunigst mit dem Egoismus-Gedanken anfreunden musste. Alles andere würde weder mir noch anderen helfen.

“Es muss uns selbst gut gehen, damit wir anderen guttun”, lernte ich weiterhin. Das schien mir auch einleuchtend. Schließlich hatte ich in den vorangegangenen Monaten nichts besseres zu tun gehabt, als stundenlang über meine Probleme zu reden. Ich war wenig für andere da gewesen. Das war die Wahrheit.

Egoismus ist daher Ansichtssache: seine Freunde jeden Tag vollzuheulen und niemanden an sich heranzulassen ist auch egoistisch. Auch wenn es sich nicht so anfühlt.

egoismus

Stimmungen färben ab

Die Stimmung unserer Mitmenschen färbt auf uns ab und umgekehrt. Es ist kein Geheimnis, dass Lachen ansteckt. Wer sich mit positiven Menschen umgibt, ist selber besser gelaunt. Depressive ziehen bewusst oder unbewusst andere mit runter.

Das soll nicht heißen, dass wir uns einigeln sollen, wenn wir nicht in Toplaune sind. Sich abzukapseln ist gerade der falsche Reflex auf eine schlechte Phase. Allerdings sollte uns bewusst sein, dass wir mit unseren Problemen für niemanden eine große Hilfe sind. Erst wenn wir unsere Konflikte lösen und unsere Sorgen angehen, können wir wieder für andere eine Stütze sein.

Wir müssen zuerst bei uns selbst aufräumen, bevor wir uns um andere drehen. Es ist nicht wichtiger sich um andere zu kümmern, als sich um sich selbst zu kümmern. Das mag hart klingen, aber es ist eine Notwendigkeit. Wer Kinder hat oder jemanden pflegt, muss auf sich selbst aufpassen. Auch Therapeuten und Sozialarbeiter müssen auf Seelenhygiene achten.

Falls du dich mit diesem Gedanken anfreunden kannst, schlage ich Folgendes vor:

  1. Nimm dir bewusst Zeit für dich: Bei einem Spaziergang oder auf der Couch bzw. auf dem Bett liegend seinen Gedanken nachzuhängen kann helfen, den Kopf frei zu bekommen. Ich mache das selbst leider auch zu selten. Alles andere scheint immer wichtiger. Doch erfahrungsgemäß ging es mir in der Vergangenheit immer dann besonders gut, wenn ich mir dieses In-mich-hineinhorchen ermöglichte. Besonders gut konnte ich das auch beim Joggen.
  2. Schaffe dir Rituale: Ein Termin mit dir selbst sollte kein einmaliges Zeitfenster zwischen Tür und Angel sein. Besser wäre ein mindestens wöchentlicher Termin, den du auch in den Kalender einträgst. Ich kann beim Yoga gut zur Ruhe kommen und den Kontakt zu mir selbst pflegen. Der wöchentliche Termin während eines Anfängerkurses half mir, das nicht immer wieder aufzuschieben. Da dieser nun vorbei ist, fällt es mir wieder schwerer, aus dem Termin mit mir eine Gewohnheit zu machen.
  3. Geh die Probleme an, die am meisten Kraft kosten: Dieses Thema ist sicher allein mehrerer Artikel würdig. Ich habe für mich festgestellt, dass ich erst wieder besser schlafe und zu Kräften komme, wenn ich die tiefgehenden Probleme angehe. Alles andere ist Zeit- und Energieverschwendung. Wenn ein Job todunglücklich macht, muss ich eben kündigen. Wenn eine Beziehung auf Dauer belastet, muss man ihr ein Ende setzen. Es müssen auch nicht immer so radikale Entscheidungen sein, aber es geht darum seine Probleme als diese anzuerkennen und anzugehen. Nur so kann es vorangehen.
  4. Kommuniziere: Damit sind keine stundenlangen Vorträge über Situation XY auf Arbeit gemeint. Die müssen zwar auch mal sein, aber es geht um die Kommunikation von Bedürfnissen. Wenn du am Anschlag bist, sag es deinen Freunden und deiner Familie. Sie wundern sich wahrscheinlich sowieso schon, warum du dich so selten meldet. Ich trug früher lieber innere Kämpfe aus, statt eine Meldung abzusetzen, dass ich gerade keine Kraft habe und mal eine Weile brauche, um mich zu sortieren.

In der Praxis

Ich glaube, ich handle nach wie vor nicht sonderlich egoistisch. Es fällt mir immer noch schwer, meinen Bedürfnissen die höchste Priorität einzuräumen. Trotzdem habe ich gelernt, mich nicht immer von meinem Perfektionismus antreiben zu lassen. Ich kann sagen: “Nein, die Wäsche lasse ich jetzt. Ich muss mich ausruhen. Das ist für mich und andere wichtiger, als wenn ich später fix und fertig bin.”

Egoismus heißt für mich auch, dass ich nicht pauschal bei jeder Veranstaltung dabei bin. Ich klinke mich manchmal aus, wenn ich erschöpft bin oder andere Dinge für mich in dem Moment wichtiger sind.

Egoismus ist ein dehnbarer Begriff. Dies ist kein Aufruf dazu nicht mehr nach rechts und links zu gucken. Du sollst nicht anderen ab sofort jede Hilfe verweigern. Doch ich möchte dir als Möglichkeit aufzeigen – Absolution erteilen –, dass du dich selbst an erste Stelle setzen kannst. Es ist legitim sich eine Weile lang zurückzunehmen und sich um sich selbst zu kümmern. Du kannst kurzfristig egoistisch sein, um langfristig mehr geben zu können.

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