Warum wir so offen schreiben

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Neulich fragte mich ein Leser, weshalb Blogger ihre Erlebnisse mit Millionen fremder Menschen teilen wollen. Über diese Frage denke ich schon länger nach. Auch deshalb, weil nicht jeder unsere Offenheit versteht. Die einen bewundern sie. Die anderen sehen in ihr eine Art Prostitution, weil wir uns im Internet auszögen, um Aufmerksamkeit zu erhalten.

Diesem Vorwurf sah sich Jasmin schon mehrfach ausgesetzt. Ihr Umfeld war es nicht gewohnt, Jasmins Gedanken im Internet zu lesen. Vieles davon hatte sie bis dahin nur mit engsten Freunden geteilt. Wer sie weniger gut kennt, war bei manchem Text überrascht, was alles in ihr steckt, welche Gedanken sie sich macht und was sie wirklich fühlt.

Kann das authentisch sein? Kann jemand, der unter Bekannten nicht viel preisgibt, tatsächlich mehr zu erzählen haben? Und warum tut er das ausgerechnet im Internet? Der introvertierte Blogger sei ein Widerspruch in sich, hörte ich manches Mal. Dabei finde ich das nicht widersprüchlich.

Ja, es fällt mir schwer offen mit Menschen zu reden. Manchmal will ich das gar nicht. Oft will ich es, aber kann es nicht. In Gruppen ist es mir unmöglich. Bevor ich meine Gedanken sortiert habe, ist das Gespräch längst woanders angelangt. Am Bildschirm hingegen habe ich Zeit meine Worte zu wählen. Ich kann mir genau überlegen, was ich sagen möchte, es aufschreiben, umschreiben und verfeinern. Bis es passt.

Das schriftliche Format hilft mir folglich dabei offen zu sein. Das heißt nicht, dass es mir oder uns leichtfällt. Es ist schwer. Je verwundbarer wir uns machen, desto länger feilen wir an einem Text. Manchmal haben wir regelrecht Angst davor ihn ins Netz zu stellen. Steht der Vorwurf der Prostitution im Raum, so wächst die Angst. Er ist ein weiterer Widerstand, der uns die Arbeit schwer macht. Jasmin fühlt sich dadurch verunsichert. Wie viel darf sie schreiben? Was denkt ihr Umfeld? Ihr Gedankenkarussell kommt dann so richtig in Fahrt. Auch, wenn der Text längst veröffentlicht ist. Einer ihrer Artikel ließ sie solange nicht mehr los, bis sie ihn nachträglich löschte.

Mich verunsichert dieser Vorwurf auch, aber noch mehr ärgert er mich. Ich kann die Idee nicht ausstehen, dass es besser sein soll, wenn jeder seine Gedanken und Gefühle für sich behält. Es gibt genug Menschen, die sich niemandem mitteilen können, sich dadurch einsam und als Außenseiter fühlen. Oft zu unrecht, weil es genügend andere Menschen gibt, die die gleichen Sorgen haben. Nur wissen sie nichts voneinander.

Bei einigen Themen dachten wir vor der Veröffentlichung, wir seien die einzigen Menschen, die sich mit solchen Problemen herumplagen. Teilweise ermutigten wir uns gegenseitig, dass dem nicht so sei. Da wäre mein Geburtstag, den ich nie feiern wollte, oder Jasmins Kinderwunsch, der auf sich warten lässt. Beide Male erfuhren wir von unseren Lesern, dass sie heimlich die gleichen Ängste bzw. Gedanken haben, ohne sie jemals mit anderen zu besprechen.

Besonders eindeutig ist das Feedback zu den Themen Introversion und Hochsensibilität. Man geht davon aus, dass 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung introvertiert und/oder hochsensibel sind. Das sind Millionen Menschen! Dennoch fühlen sich viele von ihnen allein. Sie glauben, die einzigen zu sein, die so denken und fühlen, wie sie es tun. Um sie herum sind gefühlt nur extrovertierte Menschen, die vermeintlich normal sind. Ich zitiere aus E-Mails, die mich immer wieder erreichen:

  • „Ich fühle mich als Außenseiter.“
  • „Ich finde keine Gleichgesinnten.“
  • „Meine Mutter denkt, ich sei nicht normal.“
  • „Schon länger führte ich einen inneren Kampf gegen meine (unbewusste) Introversion.“
  • „In meinen 29 Jahren musste ich mir einiges anhören: Mauerblümchen, arrogant, kalt, unnahbar.“

Diese gefühlte Isolation macht einsam und hat auch einen Namen: Pluralistische Ignoranz.

Der sperrige Begriff aus der Sozialpsychologie beschreibt eine absurde Situation: Die Mehrheit einer Gruppe denkt das Gleiche, aber niemand spricht es aus. Deshalb fühlt sich jeder einzelne als Außenseiter. Es ist ein Merkmal von Gesellschaften, in denen jeder seine Gedanken für sich behält. Die Folge sind oberflächliche Beziehungen und Einsamkeit.

Wir gehörten selbst schon oft genug zu den gefühlten Außenseitern. Jasmin mit ihrer Krankschreibung wegen Erschöpfung, ihrer Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, ihren Ängsten. Ich mit meinem Übergewicht, den introvertierten Eigenschaften, Anflügen von Einsamkeit und einem ausbaufähigen Selbstwertgefühl.

Wir sind erleichtert, wenn wir von anderen Menschen erfahren, dass auch sie Probleme haben, oft die gleichen. Vielleicht sind unsere Texte auch eine Art „Reality Check“ – geht es nur uns so, oder gibt es noch mehr Menschen da draußen? Für gewöhnlich gibt es noch mehr. Viel mehr! Ich habe nur kurz in meinen E-Mails gesucht, um Feedback zu meinem Blog für Introvertierte zu finden (teilweise gekürzt):

  • „Danke, ich fühle mich nicht mehr alleine in der Welt.“
  • „Ich bin nicht allein so freakig!“
  • „Eine solche Erleichterung!“
  • „Juchu, ich bin doch normal!“
  • „Vieles ergibt nun einen Sinn.“
  • „Endlich kann ich mich so akzeptieren, wie ich bin.“
  • „Plötzlich bin ich kein Sonderling mehr.“

Wäre es besser, wenn jeder seine kleinen „Geheimnisse“ mit engen Freunden besprechen könnte, anstatt sich nur in Blogs wiederzufinden? Natürlich. Aber viele Menschen haben diese engen Freunde nicht oder zu wenige davon oder fühlen sich von ihnen nicht richtig verstanden. Deshalb wenden sie sich an Menschen, die offen und öffentlich schreiben. Wir haben dadurch einen solchen Vertrauensvorschuss, dass sie uns persönliche Dinge erzählen oder Fragen stellen, auf die sie in ihrem Umfeld keine Antworten finden.

Darin sehen wir den größten Wert unserer Arbeit. Wir möchten, dass sich Menschen bei uns gut aufgehoben fühlen. Wir machen uns verwundbar, damit andere sich weniger allein fühlen und auch selbst offener werden. Wir möchten, dass auf diese Weise Menschen näher zueinander finden.

Das ist nicht einmal uneigennützig.

Wir wünschen es uns auch für uns selbst.


Foto: Notizbuch von Shutterstock

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