Warum es keine Naturtalente gibt und was wir von ihnen lernen können

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Der Junge, der ihr zum Durchbruch verhelfen sollte, erschien ihr erstmals im Zug. Sie sah ihn klar vor sich, mit den schwarzen ungekämmten Haaren, der Brille mit den runden Gläsern und der Narbe auf der Stirn. Auch, dass er ein Zauberer war, wusste sie sofort. Nur zu gern hätte sie ihre Ideen auf Papier festgehalten, allerdings hatte sie keinen Stift dabei. Andere Fahrgäste um einen Kugelschreiber zu bitten, traute sie sich nicht. Als sie endlich zu Hause ankam, setzte sie sich an den Küchentisch und schrieb vor Aufregung zitternd alles auf, was sie sich ausgedacht hatte. An jenem Tag im Jahr 1990 hatte Joanne Kathleen Rowling die Idee ihres Lebens. Sie erfand Harry Potter.1

Der Rest ist schon oft erzählt worden. Wie es sich für eine gute Erfolgsgeschichte gehört, tat sich die damals mittellose Autorin schwer, einen Abnehmer für ihr Buch zu finden. Zwölf renommierte Verlage lehnten Harry Potter ab. Zwei Jahre dauerte es, bis Bloomsbury sich erbarmte, den ersten Band zu veröffentlichen. Der Verlag druckte eine Auflage von 1.000 Exemplaren und zahlte der Autorin einen Vorschuss von £2,000.

Fast 20 Jahre später blickt J.K. Rowling auf mehr als 450 Millionen verkaufte Bücher zurück, die in 78 Sprachen übersetzt wurden.2 Selbst ich habe alle sieben Bände von Harry Potter gelesen, obwohl mich Fantasy-Geschichten nicht interessieren. Rowling war es gelungen, eine in sich stimmige Welt zu kreieren, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene rund um den Globus gleichermaßen begeistert. Diese Leistung ist so außergewöhnlich, dass es nahe liegt, J.K. Rowling als Naturtalent zu bezeichnen. Anders lassen sich ihre literarischen Fähigkeiten nicht erklären.

Doch stimmt das wirklich? Können gewöhnliche Muggel wie du und ich nie ein Meisterwerk wie Harry Potter schreiben? Fehlt uns etwa das Talent, eine Geschichte zu erzählen, die den Leser mitreißt?

Der Mythos vom Naturtalent

Wir hören solche Erfolgsgeschichten und erstarren angesichts der Leistung vor Ehrfurcht. Unbeirrt glauben wir, dass es sich bei dem Menschen um ein Naturtalent handeln müsse. Wir bewundern das literarische Werk, die sportliche Leistung oder das unternehmerische Geschick dieses Menschen und fragen uns gar nicht erst, ob wir das auch könnten. Diese Person hat etwas, das wir nie haben werden. Eine besondere Begabung, die ihr in die Wiege gelegt wurde. Unsere Fähigkeiten hingegen sind nicht der Rede wert, deshalb gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass uns das natürliche Talent fehlt. J.K. Rowling hingegen – die hat’s drauf.

Doch der Vergleich hinkt, denn unsere Wahrnehmung ist verzerrt. Schließlich lernen wir das Ausnahmetalent erst im Moment des Erfolgs kennen. Dabei hat jeder Superstar einmal klein angefangen. Es ist gut möglich, dass er die meiste Zeit seines Lebens der darbende Künstler war, den wir so oft belächeln, weil er erfolglos vor sich hin wurschtelt und einfach nicht begreifen will, dass er kein Talent hat. Wir verdrehen die Augen und reden von brotloser Kunst, wenn jemand in unserem Umfeld vom großen Durchbruch träumt. Wenn derjenige dann doch mehr leistet, als wir ihm zugetraut hatten, empfinden wir Bewunderung, aber auch Zweifel und Neid. Der Autor Daniel Coyle nennt diesen Moment den Holy Shit Effect3: „Heilige Scheiße, dieser Typ hat’s geschafft? Ich dachte, der kann nichts!“

J.K. Rowling war eine dieser hoffnungslosen Träumerinnen. Nur eine weitere Schriftstellerin, die sich in den Kopf gesetzt hatte, ein Buch zu veröffentlichen. Ihre Freunde glaubten, sie würde sich in eine absurde Idee verrennen. Der Verlag riet ihr, ihren Job zu behalten, denn mit Kinderbüchern würde sie nie Geld verdienen.

Auch andere Superstars, die schon früh im Leben ihren Durchbruch schafften, waren einst ganz gewöhnliche Menschen gewesen. In meiner Jugend war ich glühender Fan von Michael Jackson. Ich besaß alle seine Platten und hörte sie rauf und runter. Künstlerisch war er für mich über jeden Zweifel erhaben. Im zarten Alter von 24 Jahren veröffentlichte Michael Jackson mit „Thriller“ das bis heute größte Pop-Album aller Zeiten. In dieser Lebensphase sind viele von uns noch nicht einmal mit dem Studium fertig. Wir haben noch nichts auf die Reihe bekommen, aber Michael Jackson stand bereits auf dem Zenit seiner Schaffenskraft? Auch er musste ein Naturtalent gewesen sein. Doch was wir bei dieser Erfolgsgeschichte gern vergessen: Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits 20 Jahre lang Musik gemacht – jeden Tag! Anfangs getrieben von einem ehrgeizigen Vater, später aus einer inneren Motivation heraus.

Einen ehrgeizigen Vater hatte auch Wolfgang Amadeus Mozart, das bekannteste aller musikalischen Wunderkinder. Im Alter von sechs Jahren spielte er Konzerte vor dem europäischen Adel auf dem Klavier und der Violine. Auch hier gibt es eine Vorgeschichte. Der Vater Leopold – selbst ein Komponist des 18. Jahrhunderts – hatte schon die ältere Schwester Maria Anna unterrichtet. Mit Wolfgang begann er die musikalische Früherziehung noch zeitiger, schon bevor dieser vier Jahre alt war. Heute schätzt man, dass Wolfgang Amadeus bereits 3.500 Stunden Musiktraining absolviert hatte, als er mit sechs Jahren durch Europa reiste.4 Dieses Training hatte er in einem Alter erhalten, in dem musikalische Fähigkeiten am besten entwickelt werden können.

Vor diesem Hintergrund sei Mozarts Leistung zwar außergewöhnlich, aber nicht unfassbar gewesen, so K. Anders Ericsson, einer der führenden Wissenschaftler der Lernpsychologie. Im Gespräch mit Stephen Dubner vom Freakonomics-Podcast5 behauptet Ericsson gar, im Vergleich zu den heute mit der Suzuki-Methode6 musikalisch geschulten Kindern wäre Mozart lediglich ein durchschnittlicher Schüler gewesen. Eine provokante These, die niemand überprüfen kann. Glaubhaft finde ich sie allemal. Schließlich erlebte Mozart seine Kindheit in den 1760er Jahren. Damals hat es nicht viele Haushalte gegeben, in denen Kinder täglich professionell in der Musik geschult wurden. Dass so jemand deutlich heraussticht, wundert mich nicht. Und warum sollte ein Kind, das ähnlich viel übt, aber heute ein moderneres Training erhält, im Alter von sechs Jahren nicht besser sein können, als Mozart es damals war?

Der Einfluss unserer Gene

Ich glaube nicht an Naturtalente, allerdings gestehe ich gern ein, dass nicht alle Menschen gleich sind. Wir unterscheiden uns durch angeborene Merkmale. Diese sind zum einen körperlicher Natur. Männer und Frauen haben im Sport unterschiedliche Leistungsgrenzen, und auch unabhängig vom Geschlecht sind wir verschieden gebaut. Das beeinflusst unsere sportlichen Leistungen.

Mit einer Körpergröße von 1,70 Meter hat man es als Mann im Basketball schwer. In der Geschichte der NBA gab es lediglich neun Spieler, die 1,70 Meter oder kleiner waren7. Relativ klein zu sein, ist folglich kein absolutes Ausschlusskriterium, aber ein großer Nachteil. Erfüllt man hingegen eine Mindestanforderung, korreliert Körpergröße im Basketball jedoch nicht mehr mit Erfolg. Die größten Spieler sind nicht die besten.8 Beim Kunstturnen hingegen ist eine geringe Körpergröße von Vorteil. Die deutschen Top-Athleten sind kaum größer als 1,70 Meter. Olympiasieger Fabian Hambüchen ist gerade mal 1,63 Meter groß. Aber auch hier sind die kleinsten Sportler nicht automatisch die besten.

Bestimmte körperliche Merkmale sind folglich für manche Sportarten eine gute Voraussetzung, für andere wiederum eine schlechte. Erfolgreiche Leistungssportler besitzen allerdings keine Merkmale, die sie von gewöhnlichen Menschen unterscheiden. Sie sind weder größer noch kleiner als alle anderen. Vielmehr treiben sie einen Sport, der zu ihren körperlichen Voraussetzungen passt.

Wir Menschen unter scheiden uns neben dem Körperbau auch in unserer Persönlichkeit. Diese ist teils angeboren, teils anerzogen, und bleibt im Verlauf des Erwachsenenlebens ziemlich stabil. Durch seine Persönlichkeit hat jeder von uns bestimmte Vorlieben und Bedürfnisse. Als introvertierter Mensch fühle ich mich in Gruppen unwohl und verbringe lieber Zeit allein. Ich bin ruhig, nachdenklich und rede oft nicht mehr als nötig.

In manchen Situationen sind mir diese Eigenschaften nützlich, in anderen behindern sie mich. Als Introvertierter fällt es mir leichter als anderen, lange Texte zu schreiben, weil ich mich gern in eine Aufgabe vertiefe und am besten arbeite, wenn ich allein bin. Zu schreiben, entspricht folglich meiner natürlichen Präferenz. Allerdings macht mich das nicht automatisch zu einem guten Autor. Ich musste erst lernen, so zu schreiben, wie ich es heute kann, und habe noch eine lange Lernkurve vor mir. Auf der anderen Seite fallen mir Tätigkeiten schwer, die eher extrovertierte Bedürfnisse befriedigen, wie Meetings oder öffentliches Reden. Sie sind für mich nicht unmöglich zu meistern, ich müsste jedoch mehr dafür tun als andere.

Dass man in einer Disziplin erfolgreich sein kann, obwohl die persönlichen Merkmale dagegen sprechen, zeigt das Beispiel John Irving. Der amerikanische Schriftsteller veröffentlichte sein erstes Buch im Alter von 26 Jahren. Mittlerweile hat er 14 Romane geschrieben, von denen ich drei gelesen habe. Ich fand ein Buch besser als das andere. Man könnte meinen, Irving sei außergewöhnlich talentiert und fürs Schreiben geboren worden. Doch das Gegenteil ist der Fall, denn John Irving hat eine Lese-Rechtschreibschwäche. In der Schule musste sich Irving mehr anstrengen als seine Mitschüler, um in Englisch – seiner Muttersprache – überhaupt die Note C- zu bekommen. Um Texte zu verstehen, wendete er nach eigener Aussage doppelt bis dreimal mehr Zeit auf als andere Schüler. Bei seinen Lehrern galt er als dumm, denn so dachte man damals über Kinder, die sich besonders anstrengen müssen, um irgendwie mitzuhalten. Aus diesem Nachteil machte Irving jedoch eine Tugend. Seine Hausaufgaben korrigierte er so lange, bis sie keine Fehler mehr enthielten. Diese Gewohnheit hat er später beibehalten. Für ein Buch schreibt er bis zu zehn Entwürfe. Heute sieht er seine Schwäche als Vorteil, denn sie zwingt ihn dazu, sich fürs Schreiben Zeit zu nehmen und die eigenen Texte mehrfach zu überarbeiten.9

„To do anything really well, you have to overextend yourself“ – John Irving

Auch J.K. Rowling schreibt ihre Texte immer wieder um. Für das erste Kapitel von Harry Potter verfasste sie mindestens fünfzehn Entwürfe. Nie gab sie sich mit dem zufrieden, was sie bereits geschrieben hatte. Einen Text so häufig umzuformulieren, ist für die meisten Menschen unvorstellbar. Auch für Autoren. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwer es ist, einen Textabschnitt über den Haufen zu werfen und von vorn zu beginnen. Es fühlt sich an, als würde man harte Arbeit einfach ausradieren und damit wertlos machen. Dabei sollte das jeder Schriftsteller, Journalist und Blogger tun. Nicht nur jene, mit einer Lese-Rechtschreibschwäche. Unabhängig davon, ob unsere Persönlichkeit eine bestimmte Disziplin begünstigt oder benachteiligt, ist es nie leicht, außergewöhnliche Fähigkeiten zu entwickeln – aber immer möglich.

Ähnlich verhält es sich mit der Intelligenz. Eine dritte Ebene, auf der ein Mensch sich vom anderen unterscheidet. Schon in jungen Jahren entwickeln wir unsere kognitiven Fähigkeiten, denn Intelligenz wird sowohl durch Vererbung als auch durch die frühe Erziehung beeinflusst. Die meisten von uns sehen Intelligenz als Voraussetzung für eine erfolgreiche Karriere. Das ist nicht falsch. Aber eine Ursache dafür, dass wir in unserer Gesellschaft intelligent sein müssen, um voranzukommen, liegt in genau diesem Glauben. Denn weil wir die Bedeutung von Intelligenz überhöhen, erschaffen wir künstliche Barrieren, die nur intelligente Menschen überwinden können.

Das Beispiel John Irving zeigt, wie Kinder schon frühzeitig in Schubladen gesteckt werden. Sobald ein Lehrer einen Schüler als dumm oder klug einschätzt, löst er damit einen Dominoeffekt aus. Das als dumm abgestempelte Kind wird weniger gefördert und erhält schlechtere Noten, weil Lehrer auch nur Menschen sind, die sich von ihren Vorurteilen nicht lösen können. Später hat dieses Kind geringere Chancen, es aufs Gymnasium zu schaffen. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass es einmal studieren wird. Schon gar nicht an einer Eliteuniversität. Mit jeder zusätzlichen Barriere verbauen wir Kindern eine erfolgreiche Karriere.

Die schlechten Erfolgsaussichten für Menschen mit einem geringen Schulabschluss haben weniger mit Intelligenz zu tun als mit diesen Barrieren. Anschaulich wird dies, wenn wir Menschen miteinander vergleichen, die alle die gleiche Hürde genommen haben. Malcolm Gladwell zeigt in seinem Buch „Überflieger“, dass es unter Wissenschaftlern unterschiedlicher Intelligenz keine Korrelation zwischen Intelligenz und Erfolg gibt. Alle Wissenschaftler sind klug genug, um die Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Karriere zu erfüllen, doch die intelligentesten von ihnen sind nicht erfolgreicher als andere. Auch K. Anders Ericsson schreibt in „Top“, dass IQ und Erfolg nicht messbar korrelieren. Solange man die gesellschaftlich auferlegten Barrieren überwindet, steht ein geringer Intelligenzquotient einer großen Karriere nicht im Wege.

Dieser Gedanke ist nicht sofort eingängig, da wir die Bedeutung von Intelligenz lange Zeit überhöht haben. Ich finde es allerdings leichter nachzuvollziehen, wenn wir uns bewusst machen, was ein hoher IQ eigentlich bedeutet – nämlich nicht mehr, als dass man einen IQ-Test erfolgreich bestehen kann. Solche Tests beurteilen allerdings nicht unsere Kreativität, Denkweise oder Motivation. Dabei sind das Merkmale, die den Erfolg eines Menschen ausmachen, wie ich dir im weiteren Verlauf des Artikels zeigen werde.

Körperliche Merkmale, Persönlichkeit und Intelligenz beeinflussen unseren Lebensweg, aber sie sind weder ein Garant für Erfolg, noch für Misserfolg. Große Talente sind nicht mit Begabungen gesegnet, die wir anderen nicht haben. Manche hatten einen Startvorteil, andere wiederum nicht. John Irving hatte keinen. Seine Legasthenie war ein klarer Nachteil, von dem er sich jedoch nicht einschränken ließ. Irving passte sich an, indem er härter arbeitete als andere. Wir alle sind anpassungsfähig. Mehr als wir glauben. Jeder von uns kann die Fähigkeiten eines Talents entwickeln.

Wir können mehr, als wir glauben

Was wir zu leisten imstande sind, liegt oft außerhalb unserer Vorstellungskraft. Wenn ich von dir verlange, 200 Liegestütze zu machen, wirst du mir einen Vogel zeigen. Ich schaffe bis zu 20 Wiederholungen, wenn ich sie nicht allzu sauber ausführe. Dabei halte ich mich schon mit Kraft-Ausdauer-Training fit. Sven Kohl, einer meiner Trainer, war vor drei Jahren zu Gast bei TV Total.10 Dort stellte er seine Calisthenics-Fähigkeiten unter Beweis, also anspruchsvolle Körpergewichtsübungen. Zwischen den Übungen fragte Stefan Raab ihn, wie viele Liegestütze Sven schaffen würde. Der war sich unsicher, schätzte die Zahl aber auf 60 bis 70 Wiederholungen. Selbst ein sehr gut trainierter Mensch schafft offenbar nur wenige Liegestütze. Allerdings hatte Sven sein Training nicht auf Liegestütze ausgerichtet. Mit gezieltem Training ist sicher mehr drin – vielleicht ein paar Hundert?

Wozu der Mensch in der Lage ist, steht im Guiness-Buch der Rekorde. Allerdings führt das Buch nicht mehr den Rekord für die meisten Liegestütze. Denn kaum hatte ihn jemand aufgestellt, kam schon der nächste, um ihn wieder zu brechen. Der Rekord hatte nie lange Bestand. Stattdessen führt das Guiness-Buch nur noch den Weltrekord für die meisten Liegestütze in 24 Stunden. Dieser liegt bei 46.001.11 Ein Wert, der außerhalb meiner Vorstellungskraft liegt. Ich schaffe 20 Liegestütze, Sven schafft 70, aber der Rekordhalter Charles Servizio schaffte 46.001. Bei Klimmzügen ist es das gleiche Bild. Ich schaffe gerade so einen. Aber der Rekord liegt bei 7.306 Wiederholungen in 24 Stunden.12 Das ist die Anpassungsfähigkeit unseres Körpers. Wenn wir ganz gezielt und ausdauernd eine Fähigkeit trainieren, können wir etwas leisten, das wir uns vorher nicht einmal vorstellen konnten.

Unser Gehirn ist ähnlich anpassungsfähig. Während meiner Recherche stieß ich auf die Geschichte des Journalisten Joshua Foer. Im Jahr 2005 besuchte er im Auftrag einer Zeitschrift die Gedächtnismeisterschaft der Vereinigten Staaten. Diese findet jedes Jahr in New York statt. Die Teilnehmer wetteifern darum, wer sich die meisten Zahlen, Namen, Gedichte oder Spielkarten merken kann. Foer erwartete, dass es sich bei den Wettbewerbern um Naturtalente handeln müsse – Menschen, deren Gehirne dafür gemacht sind, sich Informationen zu merken. Er sprach mit unzähligen Teilnehmern, aber jeder von ihnen behauptete, keine besondere Begabung zu haben. Jeder normale Mensch könne an dieser Meisterschaft teilnehmen.

Foer war skeptisch, aber fasziniert. Im Anschluss an den Wettbewerb begann er jeden Morgen für 15 bis 20 Minuten sein Gedächtnis zu trainieren. Nach den ersten Fortschritten engagierte er Ed Cooke, damals einer der besten Gedächtniskünstler der Welt. Cooke sollte ihm dabei helfen, Techniken zu entwickeln, mit denen sich Foers Gedächtnisleistung verbessern würde. Diese Techniken zielen darauf ab, eine bedeutungslose Information in Bilder und Emotionen umzuwandeln. Auf diese Weise kann man zum Beispiel einer willkürlichen Zahlenreihe einen Sinn geben.13 Diese Techniken sind nicht neu. Bereits die Griechen der Antike wendeten sie an. Allerdings gerieten sie zunehmend in Vergessenheit, da man sie heute nur noch bei Gedächtnismeisterschaften braucht.

Nach einem Jahr Training nahm Joshua Foer selbst an der Gedächtnismeisterschaft in den USA teil. Er wollte etwas tiefer in diese Welt eintauchen, um einen ausführlicheren Artikel schreiben zu können. Beobachtet man einen solchen Wettbewerb nur von außen, ist er unfassbar langweilig. Schließlich sieht man Menschen dabei zu, wie sie sich konzentrieren. Foer hatte nach eigener Aussage keine großen Ambitionen – dennoch gewann er die Meisterschaft. Er war der US-Gedächtnismeister des Jahres 2006.14

Joshua Foer erfuhr aus erster Hand, wie anpassungsfähig das menschliche Gehirn ist. Es besteht aus bis zu 100 Milliarden Nervenzellen.15 Jede dieser Zellen kann mit Tausenden anderer Zellen vernetzt sein. Wann immer wir etwas lernen, entstehen neue Verbindungen zwischen Nervenzellen und bestehende Verbindungen werden gestärkt. Hören wir auf zu trainieren, werden sie wieder aufgelöst, deshalb können wir eine Fähigkeit auch verlernen.

Am besten lernt unser Gehirn in der Kindheit. Lange Zeit dachte man, das erwachsene Gehirn sei unveränderlich, doch die Forschung zeigt, dass das nicht stimmt. Der schwedische Psychologe K. Anders Ericsson schreibt in seinem Buch „Top“, Erwachsene lernen ähnlich gut wie Kinder – nur anders. Deswegen sind für ältere Menschen andere Methoden effektiver als für Kinder. Wir alle haben die Kapazität dazuzulernen. Niemand hat ausgelernt oder seinen Zenit erreicht. Sobald wir etwas ausprobieren, das wir noch nicht können, passt sich unser Gehirn an den neuen Bedarf an. Es vernetzt sich einfach neu.

Der Lernfähigkeit des menschlichen Gehirns sind keine Grenzen gesetzt, jedenfalls sind bislang keine bekannt. Joshua Foer gewann vor zehn Jahren die amerikanische Gedächtnismeisterschaft. Mit seinem Buch „Alles im Kopf behalten“ trug er anschließend dazu bei, dass der Wettbewerb in den USA wesentlich populärer geworden ist. Mittlerweile konkurrieren mehr Teilnehmer um den Titel, die bessere Techniken entwickeln und härter trainieren. Foer würde heute bei der Meisterschaft keinen Blumentopf mehr gewinnen. Andere Menschen haben längst neue Bestmarken aufgestellt und werden das weiterhin tun. Nicht nur beim Gedächtnistraining, sondern in allen Disziplinen.

Vier Merkmale großer Talente

Wenn außergewöhnliche Fähigkeiten nicht auf einem angeborenen Talent beruhen und wir alle so viel Potential in uns tragen, warum sind dann nur wenige Menschen richtig gut in dem, was sie tun? Was unterscheidet die Elite eines Fachs von der breiten Masse? Bei meiner Recherche bin ich auf vier Merkmale äußerst erfolgreicher Menschen gestoßen.

1. Sie denken dynamisch

Die meisten von uns glauben intuitiv, dass ein Mensch entweder für besondere Fähigkeiten veranlagt ist oder nicht.16 Die vermeintlichen Talente sollten schon in der frühen Kindheit zum Vorschein kommen. Anschließend müssten die Fähigkeiten mit entsprechender Förderung nur noch entwickelt werden. Wer sich durch keine besonderen Leistungen hervortut, sei eben untalentiert.

Die Psychologin Carol Dweck bezeichnet diese Denkweise als statisch.17 Menschen mit einem statischen Selbstbild glauben an die Macht der Veranlagung. Für sie sind ihre Fähigkeiten weitgehend in Stein gemeißelt. Sie halten sich selbst (und andere) entweder für talentiert oder unbegabt, intelligent oder dumm. Sie sind fest davon überzeugt, sich nicht verändern zu können. Damit stehen sie sich oft selbst im Weg. Bei Misserfolgen stecken sie den Kopf in den Sand, reden sich selbst schlecht oder suchen die Schuld bei anderen. Anstrengungen weichen sie aus, um sich nicht zu blamieren und weil sie glauben, es würde an ihren Fähigkeiten ohnehin nichts ändern.

Demgegenüber steht die dynamische Denkweise. Dynamisch denkende Menschen glauben, dass wir alle voller Potential stecken. Für sie ist offen, wie weit es jemand im Leben bringt. Talent ist für sie nur eine Häufung von Fähigkeiten, die jeder selbst entwickeln kann. Menschen mit einer dynamischen Denkweise lernen ihr Leben lang und strengen sich ganz selbstverständlich dafür an. Stehen sie vor einem schwierigen Problem, fühlen sie sich nicht dumm, sondern wollen es lösen. Auch ihren Mitmenschen trauen sie zu, sich weiterzuentwickeln. Deshalb unterstützen sie sie dabei, ihr Potential zu entfalten.

Für K. Anders Ericsson, einem Vorreiter in der „Wissenschaft vom Lernen“, ist die dynamische Denkweise eine wesentliche Voraussetzung, um sich weiterzuentwickeln. Wir müssen überzeugt davon sein, etwas lernen zu können, das uns heute noch schwer fällt. Der Glaube an natürliches Talent hingegen limitiert unser Potential.

Wie Denkweisen entstehen

Wir kommen mit einem dynamischen Selbstbild auf die Welt. Wir sind neugierig, wollen ausprobieren und dazulernen. Doch im Verlauf der Kindheit kommt der Ernst des Lebens dazwischen. Eltern und Lehrer beginnen uns in Schubladen zu stecken und zu bewerten. Kaum trällern wir ein paar falsche Töne, gelten wir als musikalisch unbegabt. Fällt uns der Sport schwer, weil wir zu dick sind, werden wir als unsportlich abgestempelt. Lehrer halten uns für klug oder dumm. Viele dieser Bewertungen werden zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Ein vermeintlich unmusikalisches Kind wird nicht unterstützt, vielleicht sogar entmutigt, und stellt seine Bemühungen bald ein. Ein vermeintlich begabter Schüler wird von seinen Lehrern bevorzugt, erhält gute Noten und dafür wiederum Anerkennung. Er wird automatisch immer zu den Besseren gehören. Als Kinder wissen wir es nicht besser und übernehmen die Einschätzung derer, denen wir vertrauen.

Oft behalten wir eine einmal verfestigte Denkweise unser ganzes Leben bei. Ein Merkmal des statischen Selbstbildes ist schließlich, dass es nicht an die Möglichkeit eines dynamischen Selbstbildes glaubt. Deshalb ist es schwer, seine Denkweise auf den Kopf zu stellen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Ich halte mich eher für einen dynamisch denkenden Menschen, aber in manchen Bereichen meines Lebens habe ich ein statisches Selbstbild. Einer davon ist das Dating. Es fiel mir immer schwer Frauen kennenzulernen. So schwer, dass ich oft resignierte. Ich wusste, dass ich selbst mehr tun musste, aber in manchen Phasen war ich gefangen in meiner statischen Denkweise. Ich glaubte nicht daran, jemals eine Partnerin zu finden. Zeitweise redete ich mir ein, dass irgendetwas an mir nicht stimmen würde. Etwas, das sich nicht verändern ließe. Nur unter größter Überwindung, mit Unterstützung von Freunden und in vielen Anläufen gelang es mir, mich in dem Bereich weiterzuentwickeln und die notwendige Ausdauer aufzubringen. Gerade an meiner größten Schwachstelle war es schwer, das eigene Potential zu erkennen.

Das fällt mir auch an Menschen in meinem Umfeld auf, die in einem wichtigen Bereich ihres Lebens statisch denken. Ich sehe Potential, das sie selbst nicht wahrnehmen, weil sie überzeugt sind, nicht über ihr heutiges Ich hinauswachsen zu können. Am liebsten möchte ich diese Menschen dynamisch schütteln, so als würden sie dadurch beginnen, an ihre eigenen Fähigkeiten zu glauben. Leider funktioniert das nicht. Doch als dynamisch denkender Mensch ist es mir ein Bedürfnis, andere in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Das ist einer der Gründe, weshalb ich mir mit diesem Text so viel Mühe gebe. Vielleicht springt bei manchem Leser ein Funke über. Und auch ich selbst profitiere noch von diesem Thema. Gerade jetzt, da wir Healthy Habits neu ausrichten, hilft mir die Erkenntnis, dass ich in meinen Fähigkeiten nicht limitiert bin. Ich arbeite nun gezielt daran, ein besserer Autor zu werden.

Auch J.K. Rowling konnte Harry Potter nur dank ihrer dynamischen Denkweise schreiben. Dabei hatte sie genug Grund, an ihrem Lebensweg zu zweifeln. Nach der Scheidung von ihrem ersten Mann zog sie ihre Tochter allein groß und lebte von Sozialhilfe. Ihre Freunde hatten kein Verständnis dafür, dass sie so viel Zeit ins Schreiben investierte und die Verlage lehnten ihr Manuskript reihenweise ab. Die meisten von uns hätten längst aufgegeben und sich eingestanden, nicht gut genug zu sein. Doch in einem Interview mit Oprah Winfrey verriet Rowling, dass sie immer an eine Sache geglaubt hatte: Dass sie die Fähigkeit besitzt, eine gute Geschichte zu erzählen.18 Das bestreitet heute niemand mehr.

2. Sie lernen bewusst über eine lange Zeit

Eine Botschaft, die mir aus Malcolm Gladwells Bestseller „Überflieger“ bekannt war, noch bevor ich das Buch gelesen hatte, war die 10.000-Stunden-Regel. Demnach haben außergewöhnlich erfolgreiche Menschen immer mindestens 10.000 Stunden an ihren Fähigkeiten gearbeitet. Bill Gates hatte viele tausend Stunden programmiert, bevor er Microsoft gründete, die Beatles hatten Tausende Stunden in Hamburger Bars gespielt, bevor sie groß raus kamen. J.K. Rowling schrieb ihr erstes Buch „Rabbit“ im Alter von sechs Jahren. Mit 11 Jahren schrieb sie einen Roman über verwunschene Diamanten. Sie schrieb während ihrer gesamten Jugend und hörte nie damit auf. Wahrscheinlich hatte sie die 10.000 Stunden längst erreicht, als ihr die Idee zu Harry Potter kam.

Praktisch jeder erfolgreiche Unternehmer, Leistungssportler und Künstler hat 10.000 Stunden und mehr in seine Fähigkeiten investiert. Arbeitet man an einer Fähigkeit drei Stunden am Tag, braucht man zehn Jahre, um sie zu meistern. Deshalb, so die eingängige Meinung, solle man besser in jungen Jahren beginnen. Viele Leser werden nach der Lektüre von „Überflieger“ gedacht haben, dass sie nicht so viel Zeit übrig haben und deshalb nie zur Leistungselite gehören werden. Andere dachten sich: „Okay, dann mache ich mal meine 10.000 Stunden voll.“

Allerdings tut man sich mit beiden Schlussfolgerungen keinen Gefallen. Die vermeintliche 10.000-Stunden-Regel beruht auf der Arbeit von K. Anders Ericsson, den ich in diesem Text schon mehrfach erwähnt habe. In seinem Buch „Top“ und in zahlreichen Interviews erklärt Ericsson, weshalb die Regel irreführend ist. Zum einen könne man nie pauschal sagen, wie viel Training man aufwenden muss, um in irgendeiner Disziplin zur Leistungselite zu gehören. Schließlich sei der Wettbewerb ausschlaggebend. Um zu den besten Fußballern der Welt zu gehören, reichen 10.000 Stunden nicht aus, denn die Konkurrenz ist gewaltig. Um die US-Gedächtnismeisterschaft zu gewinnen, musste Joshua Foer lediglich ein Jahr üben. Folglich sind in manchen Feldern weit über 10.000 Stunden Training nötig, in einer kleinen Nische genügen hingegen schon wenige hundert Stunden.

Zum anderen sei laut Ericsson nicht die Zahl der aufgewendeten Stunden entscheidend, sondern wie man diese Stunden nutzt. Wenn ich 10.000 Stunden lang stets das gleiche Lied auf der Gitarre spiele, bin ich anschließend Experte für dieses Lied. Aber ein besserer Gitarrist bin ich dadurch nicht geworden. Neben der aufgewendeten Zeit ist für den Erfolg deshalb vor allem die Qualität des Trainings entscheidend. In der Fachliteratur hat sich für ein gezieltes Training der Begriff Deliberate Practice durchgesetzt, den vor allem K. Anders Ericsson prägte. Ins Deutsche übersetzen wir diesen Ausdruck am besten mit Bewusstes Lernen.

Bewusstes Lernen ist die effektivste Methode, um unsere Fähigkeiten zu entwickeln. Allerdings wenden die meisten von uns in ihrem Erwachsenenleben kaum Zeit für bewusstes Lernen auf. Stattdessen sind wir damit beschäftigt, irgendwie den Aufgaben des Alltags gerecht zu werden. Eine steile Lernkurve haben wir immer nur dann, wenn wir den Job wechseln, mit einer Sportart beginnen oder uns für ein neues Hobby entscheiden. In den ersten Wochen lernen wir noch viel dazu, doch dann wird die Lernkurve immer flacher. Es dauert nicht lange, bis unsere Fähigkeiten auf einem Niveau stagnieren, das gerade gut genug ist.

Ich stagniere zum Beispiel beim Sport. Bis vor sechs Jahren hatte ich nie regelmäßig Fußball gespielt. Deshalb wurde ich schnell besser, als ich begann wöchentlich zu spielen. Doch es dauerte nicht lange, bis ich auf einem schwachen Niveau hängen blieb. Ein Spiel pro Woche genügt nicht, um mich weiter zu verbessern und vor allem ist ein Spiel kein zielgerichtetes Training. Beim Squash erlebe ich das Gleiche. Ich spielte einige Jahre auf einem konstanten Niveau. Nachdem ich Anfang 2016 einen deutlich überlegenen Spielpartner fand, wurde ich etwas besser, doch seitdem stagniere ich wieder. Denn auch wir spielen nur, aber trainieren nicht.

Bewusstes Lernen konzentriert sich nicht auf das Spiel, sondern auf gezieltes Training. Dabei bewegt man sich stets an der Grenze der eigenen Fähigkeiten. Möchte ich schneller laufen können, muss ich mich bis zur Erschöpfung verausgaben, anstatt leicht zu joggen. Möchte ich kräftiger werden, muss ich Gewichte stemmen, bis meine Muskeln erschöpft sind. Möchte ich beim Squash meine Rückhand verbessern, muss ich auch schwierige Bälle gezielt mit der Rückhand spielen. Auf diese Weise verschiebe ich meine persönliche Leistungsgrenze immer weiter nach oben.

Für geistige Fähigkeiten ist das Prinzip das Gleiche. Auch hier muss ich meine Kapazitäten ausreizen, bis Fehler unvermeidbar werden. Das bedeutet, ein Musikstück zu üben, das ich noch nicht beherrsche, einen Text zu schreiben, der zu groß für mich erscheint oder im Job eine Aufgabe anzunehmen, die mir schwer fällt. Dabei produziere ich automatisch Fehler, die für meine Entwicklung entscheidend sind. Aus diesen Fehlern kann ich lernen und ein besseres Verhalten verinnerlichen.

Bewusstes Lernen ist eine entscheidende Voraussetzung, um unsere Fähigkeiten signifikant zu verbessern. Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig diese Methode ist. Dennoch möchte ich sie hier nicht weiter vertiefen. Das Thema steht für sich. Deshalb widme ich mich in meinem nächsten Artikel ausschließlich dem bewussten Lernen.

3. Sie haben einen starken Antrieb

Bewusst Lernen ist schwer. Sich ständig an der Grenze der eigenen Fähigkeiten zu bewegen, laugt jeden Menschen früher oder später aus. Um das durchzustehen, benötigt man einen starken Antrieb. Ich unterscheide zwei Arten von Motivation, die in verschiedenen Phasen des Lernens zum Tragen kommen.

Der zündende Moment

Am Anfang jeder „Karriere“ steht ein zündender Moment, der unser Interesse weckt. Für Kinder spielen oft die Leidenschaften der Eltern eine wichtige Rolle. Leopold Mozart – der Vater von Maria Anna und Wolfgang Amadeus – war selbst Komponist und übertrug seine Leidenschaft auf beide Kinder. Keke Rosberg – Formel 1 Weltmeister des Jahres 1982 – steckte seinen Sohn mit der Leidenschaft für die Rennfahrt an. Der kleine Nico ist heute selbst frisch gebackener Weltmeister. Auch Michael Schumacher begeisterte seinen Sohn Mick für den Beruf des Rennfahrers. Kürzlich stieg dieser in die Formel 3 auf.19 Es ist aber nicht nur das Interesse, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird, sondern auch der Glaube, eine Fähigkeit meistern zu können. Für Nico Rosberg und Mick Schumacher sind ihre Väter wahrscheinlich keine Lichtgestalten, sondern ganz normale Menschen, die mit harter Arbeit Außergewöhnliches geleistet haben. Deshalb liegt es für den Nachwuchs nahe, sich selbst auch hohe Ziele zu setzen.

Das Vorbild muss nicht aus der eigenen Familie stammen. Ein Kind kann sich auch an erfolgreichen Sportlern oder Künstlern orientieren, die es nur aus den Medien kennt. Allerdings springt der Funke eher über, je ähnlicher das Vorbild dem Kind ist. Anhand von Gemeinsamkeiten erkennt es, dass das Idol auch nur ein normaler Mensch ist.20

Viele Leidenschaften haben ihren Ursprung in der Kindheit, doch das heißt nicht, dass Erwachsene nicht auch neue Interessen entwickeln können. Für sportliche Höchstleistungen mag es bereits zu spät sein, doch fast alle anderen Fähigkeiten können wir auch in einem fortgeschrittenen Alter erlangen. Dass wir es zumeist dennoch nicht tun, ist unserem Alltag geschuldet. Kinder haben Zeit, Erwachsene oft nicht. Wir stecken in einem Hamsterrad fest. Vor lauter Arbeit und Verpflichtungen wissen wir nicht mehr, was uns eigentlich Spaß macht. Deshalb möchte ich jeden dazu ermutigen, auch im Erwachsenenalter noch Interessen nachzugehen. Sobald wir eine Euphorie in uns spüren, sollten wir ihr folgen. Es könnte der zündende Moment für eine große Leidenschaft sein.

Von der Euphorie zur Ausdauer

Die zweite Art der Motivation kommt nach der Euphorie. Sich für ein Thema zu begeistern, ist noch vergleichsweise leicht. Wir alle kennen Situationen, wie sie J.K. Rowling damals im Zug erlebte, als sie in ihrem Kopf die Geschichte des Zauberschülers entwickelte. Wir sind für einen Moment euphorisch und spinnen die wahnwitzigsten Ideen zusammen. Solche Gedanken kommen uns oft dann, wenn wir zwar Zeit zum Träumen haben, unsere Idee aber gerade nicht umsetzen können. So wie J.K. Rowling, die von Harry Potter träumte, aber keinen Stift dabei hatte. Bis dahin gleicht ihre Geschichte allen anderen. Doch dann tat Rowling etwas Bemerkenswertes: Als sie nach der langen Reise endlich zu Hause ankam, kochte sie sich nicht erst ein Abendessen und setzte sich anschließend vor den Fernseher. Nein, sie nahm Stift und Papier und schrieb alles auf. Auch das war noch nicht das Ende der Euphorie, denn an den nächsten Tagen machte sie weiter. Fünf Jahre lang schrieb Rowling am ersten Band und entwickelte die Welt des Harry Potter. Bis sie im Jahr 2007 das letzte Buch der Reihe veröffentlichte, hatte sie 17 Jahre an der Reihe gearbeitet.

Diese Zahl müssen wir uns mal auf der Zunge zergehen lassen. 17 Jahre! Eine unglaubliche Zeit, um sich mit einer Sache zu beschäftigen. Das nenne ich Durchhaltevermögen. J.K. Rowling hatte offensichtlich einen Antrieb, der sie über die erste Euphorie hinaus trug und auch dann nicht versiegte, als sich jeder Verlag gegen sie verschworen zu haben schien. Sie hatte den Antrieb, diese Geschichte in die Welt hinaus zu tragen. Das ist außergewöhnlich und es ist ein Erfolgskriterium. Wer hat schon die Ausdauer, so lange an einer Sache zu arbeiten und seine Fähigkeiten immer weiter zu entwickeln? Ein Buch zu schreiben ist an sich schon schwer, aber wer nimmt sich die Zeit, fünf Jahre lang eine stimmige Zauberwelt zu kreieren und fünfzehn Entwürfe für das erste Kapitel zu schreiben?

Die meisten Menschen fangen entweder gar nicht erst an, ernsthaft an etwas zu arbeiten oder aber sie hören auf zu lernen, sobald ihre Leistung „gut genug“ ist. Wenn sie ein Musikstück gut genug spielen können, perfektionieren sie ihre Leistung nicht, sondern klimpern nur noch herum. Wenn sie gut genug schreiben können, werden sie nicht mehr besser, sondern schreiben immer wieder das Gleiche.

Meine Erfahrung mit „gut genug“

Ich kenne dieses „gut genug“ aus eigener Erfahrung. Auch ich habe ein Niveau, mit dem ich mich oft zufrieden gebe. In den letzten zehn Jahren habe ich mehrere Projekte gestartet und Unternehmen gegründet. Die meisten davon waren erfolgreich. Erfolgreich genug jedenfalls. Im Jahr 2006 gründete ich eine Website für Rabattgutscheine. Damals war es nicht schwer, zu den Besten zu gehören, denn es gab nur wenige solcher Projekte. Die meisten Webmaster betrieben ihre Websites im Nebenerwerb, so wie ich auch. An den Abenden und Wochenenden arbeitete ich an dem Projekt. Bald waren meine Einnahmen aus dieser Arbeit höher als mein Gehalt. Nach einem Jahr verdiente ich genug, um komfortabel davon leben zu können. Doch dann gründete ich eine Agentur für Online Marketing, die meine volle Aufmerksamkeit erforderte. Für meine Website tat ich nur noch das Nötigste und sah dabei zu, wie sie langsam austrudelte. Rückblickend war diese Entscheidung zumindest aus finanzieller Sicht falsch. Ich hatte aufgehört, als es gut genug lief. Mittlerweile erzielen die führenden Websites dieser Branche siebenstellige Beträge im Jahr. Mein damaliger Mitbewerber Torsten Latussek beschäftigt heute 18 Mitarbeiter.21

Immerhin hatte ich noch die Agentur. Zusammen mit einer Geschäftspartnerin baute ich die Firma vier Jahre lang auf. Wir zahlten uns ein gutes Gehalt und erzielten darüber hinaus solide Gewinne. Erneut reichte es, um komfortabel zu leben. Doch mehr als das war es nicht, als ich im Jahr 2012 aus dem Unternehmen ausstieg.

Anschließend gründete ich 101 Places. Nach etwa einem Jahr zählte er zu den größten Reiseblogs in Deutschland. Auch wenn der Wettbewerb damals schwächer war, als er es heute ist, gab es auch im Jahr 2013 schon ein paar Hundert Reiseblogs. Dennoch gelang es mir, schnell zu den Besten zu gehören, weil ich nützlichere Inhalte schrieb, als es die meisten Blogger bis dahin getan hatten. Doch gerade als das Projekt so richtig ins Laufen kam, verlor ich die Lust am Reisen. Mittlerweile verreise ich nur noch unregelmäßig. Der Blog ist weiterhin gut genug, um vorne mitzuspielen – mehr aber auch nicht. Einige Reiseblogger sind erfolgreicher, weil sie häufiger verreisen, mehr Zeit in ihre Texte investieren und sich kontinuierlich verbessern.

Ich hingegen gründete zusammen mit Jasmin Healthy Habits. Voller Tatendrang zogen wir das neue Projekt hoch. Doch noch bevor es seinen zweiten Geburtstag feierte, hatten wir es uns bequem gemacht. Es fiel uns nicht mehr schwer, neue Texte zu schreiben. Einige Artikel kosteten uns nur einen Tag. Manchmal sagten wir uns: „Ich könnte es noch besser machen, aber es reicht auch.“ Wir gaben uns mit dem zufrieden, was gut genug war. Wir waren auf einem Leistungsplateau angelangt, das ich mit meiner ersten Website, der Agentur und dem Reiseblog schon dreimal erlebt hatte. Jedes Mal hatte ich kurz darauf die Lust an den Projekten verloren und etwas Neues begonnen. Stagnation ist schließlich langweilig.

Allerdings gehören Plateaus zum Lernprozess dazu. Sie existieren nicht nur bei Unternehmensgründungen und beim Bloggen, sondern in der Musik, im Sport, bei Hobbys und in jedem gewöhnlichen Beruf. Leider kommen die meisten von uns nicht über das erste große Plateau hinaus, sondern geben sich damit zufrieden, gut genug zu sein. Wenn uns das wirklich genügt, dürfen wir uns daran gern erfreuen. Bisher habe ich es nie wirklich bereut, auf einem Plateau das Projekt gewechselt zu haben. Doch dieses Mal soll es anders werden. Dieses Mal möchte ich dran bleiben, um in meiner Arbeit richtig gut zu werden. Ich möchte nicht nur ein Blogger sein, der von seiner Arbeit leben kann, sondern ein wirklich guter Autor.

„If you always put limit on everything you do, physical or anything else. It will spread into your work and into your life. There are no limits. There are only plateaus, and you must not stay there, you must go beyond them.“ – Bruce Lee

Motivation über das Plateau hinaus

Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten gelingt es immer wieder Plateaus zu überwinden. Wie machen sie das? Sind sie willensstärker als wir normalsterblichen Menschen? Ich glaube nicht. Willenskraft ist keine universelle Eigenschaft. Jeder hat in vereinzelten Situationen einen starken Willen, in anderen aber einen schwachen. Manche Menschen sind beim Sport extrem motiviert, aber schaffen es nicht, eine Fremdsprache zu lernen, obwohl sie es sich schon seit Jahren vornehmen. Andere sind sehr diszipliniert in ihrer Arbeit, aber können die Finger nicht von den Süßigkeiten lassen. Die Stärke unseres Willens hängt davon ab, worauf er sich bezieht und auf welchem Fundament er steht. Was treibt uns zu einem bestimmten Verhalten an? Warum sollten wir weitermachen, auch wenn es schwer wird? Das sind die entscheidenden Fragen.

Bei Healthy Habits arbeiteten wir lange darauf hin, von dem Projekt leben zu können. Jasmin war ohne regelmäßige Einkünfte in die Selbständigkeit gestartet. Deshalb war es wichtig, mit Healthy Habits schnell Einnahmen zu erzielen. Dieses Ziel trieb uns eine Weile an. Allerdings motiviert Geld nur so lange, bis die wichtigsten Bedürfnisse gestillt sind. Danach ist es langweilig, für Geld zu arbeiten. Mittlerweile hat Jasmin mehrere Einnahmequellen erschlossen und ich habe auch andere Einkünfte. Wir sind finanziell nicht davon abhängig, dass Healthy Habits weiter wächst. Deshalb hätte unsere Motivation nicht mehr lange gereicht, um weiter Texte zu schreiben, die wir nicht unbedingt schreiben wollten. Der finanzielle Druck ist raus, deshalb muss die Motivation nun woanders herkommen.

Das ist nicht nur bei uns so. Ich kenne dieses Phänomen von Freunden und Bekannten, die in den letzten Jahren erfolgreich waren, aber ihren Antrieb verloren, sobald sie genug verdienten. Reichtum mag für viele Menschen ein Ziel sein, aber es ist selten die eigentliche Quelle ihrer Motivation. Ich bezweifle, dass es viele exzellente Sportler, Musiker oder Schriftsteller gibt, die jahrelang an ihren Fähigkeiten arbeiteten, um reich zu werden. Fast immer geht es ihnen um etwas anderes. Auch wenn der Fußballstar Christiano Ronaldo Millionen verdient, ist sein Antrieb ein anderer. Er möchte der beste Spieler der Welt sein, die Champions League gewinnen und Weltmeister werden. Dafür lässt er sich gut bezahlen. Aber er läuft nicht schneller, weil er ein paar Millionen mehr bekommt.

Um uns weiterhin anzustrengen, wenn externe Belohnungen ihren Reiz verloren haben, brauchen wir eine andere Art von Motivation. Wir brauchen einen Antrieb, der sich aus der Aufgabe selbst ergibt, weil sie uns herausfordert, Spaß macht oder wir sie als sinnvoll empfinden. Kurz: wir brauchen intrinsische Motivation. Über diese schreibt Daniel Pink in seinem Buch „Drive“. Laut Pink müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein, damit wir von innen heraus motiviert sind:

1. Autonomie: Wir sind motivierter, wenn wir eigenständig Entscheidungen treffen und unsere Arbeit selbst organisieren. Wir sollten die Freiheit haben zu entscheiden, wann und wie wir arbeiten, woran wir arbeiten und mit wem wir zusammenarbeiten. Da diese Kriterien auf die meisten Arbeitsverhältnisse nicht zutreffen, sind Arbeitnehmer selten von innen motiviert. Für Unternehmer, Sportler und Künstler hingegen ist Autonomie selbstverständlich.

2. Können: In einem Feld zu den Besten zu gehören, sich besser auszukennen als andere und eine Fähigkeit zu meistern, motiviert uns. Je besser wir werden, desto mehr treibt es uns an. Allerdings erreichen viele Menschen nie dieses Niveau, auf dem sie stolz auf ihre Fähigkeiten sind. Sobald sie gut genug sind, bemühen sie sich weniger.

3. Sinnerfüllung: Auf ein hohes Niveau zu gelangen, ist anstrengend. Doch wenn wir unsere Energie für etwas einsetzen, das uns wichtig ist, kann diese Anstrengung unser Leben mit Sinn erfüllen. Den Quartalsgewinn zu steigern oder profitabler zu werden, spornt niemanden zu Höchstleistungen an. Stattdessen müssen wir mit unserer Arbeit einen bedeutsamen Zweck verbinden, um dauerhaft motiviert zu sein. Ein Ziel kann sein, sich selbst weiterzuentwickeln oder anderen Menschen zu helfen, sie zu inspirieren und zu begeistern.

Ich glaube, unsere Arbeit an Healthy Habits erfüllt diese drei Voraussetzungen. Wir arbeiten selten mit Unternehmen oder anderen Bloggern zusammen. Deshalb entscheiden wir überwiegend selbst, wann und wie wir arbeiten und welche Texte wir schreiben. Aktuell erlauben wir uns, mehrere Wochen Arbeitszeit in neue Themen zu investieren, weil es uns Spaß macht. Dabei entwickeln wir unsere Fähigkeiten, indem wir tiefer in eine Materie eintauchen und gezielt an unserem Schreibstil arbeiten. Wir möchten bessere Autoren werden und Texte schreiben, die interessanter und lesbarer sind als die meisten Inhalte im Internet. Mit unserer Arbeit wollen wir andere Menschen erreichen, sie inspirieren und ihnen einen Ort bieten, an dem sie sich gut aufgehoben fühlen. Dieser Anspruch motiviert uns.

4. Sie nutzen günstige Gelegenheiten

Wenn wir dynamisch denken, stets dazu lernen und dauerhaft motiviert sind, entwickeln wir außergewöhnliche Fähigkeiten. Aber haben wir tatsächlich alle die gleichen Voraussetzungen dafür? Liegt das Schicksal etwa vollständig in unserer Hand? Ich glaube nicht. Denn ein Merkmal großer Talente fehlt uns noch: der Zufall.

Seit unserer Geburt unterliegen wir Zufällen, die wir nicht kontrollieren können. In welche Familie jemand geboren wird, ist solch ein Zufall. Stammt ein Kind aus einem gut situierten Elternhaus mit hohem Bildungsgrad, wird es wahrscheinlich das Gymnasium besuchen, vielleicht die Realschule, aber ganz sicher nicht die Hauptschule.22 Anschließend wird es vermutlich studieren und damit beste Voraussetzungen für eine erfolgreiche Karriere haben. Darüber hinaus vermitteln gebildete Eltern ihrem Kind wichtige Fähigkeiten und Denkweisen, schenken ihm Bücher, melden es im Sportverein an oder führen es an ein Instrument heran.

Anderen Kindern bleiben diese Vorteile verwehrt. Wächst ein Kind in einem sozial schwachen und weniger gebildeten Haushalt auf, wird es wahrscheinlich die Hauptschule oder bestenfalls die Realschule besuchen. Anschließend absolviert es eine Berufsausbildung und tritt eine Karriere mit geringen Aufstiegschancen an. Obwohl das Kind das gleiche Potential hat wie ein Kind aus einem gebildeten Haushalt, kann es dieses Potential nicht abrufen. Sein Umfeld beeinträchtigt den Erfolg erheblich.23

In welche Familie wir geboren werden, ist einer der wichtigsten Zufälle unseres Lebens. Aber auch später meint der Kollege Zufall es mal gut und mal schlecht mit uns: Entdeckt uns ein Talentspäher im Fußballverein? Ergattern wir einen Platz an der begehrten Musikschule? Treffen wir auf ein inspirierendes Vorbild? Kann der neue Vorgesetzte uns leiden? Finden wir einen Verlag, der unser Buch veröffentlicht? Überall dort, wo wir von anderen Menschen abhängig sind, brauchen wir günstige Gelegenheiten. Vielleicht würde J.K. Rowling heute noch von Sozialhilfe leben, hätte Bloomsbury nicht den ersten Band von Harry Potter veröffentlicht. Sie hat ihre Chance bekommen.

Gelegenheiten beim Schopfe packen

Nicht immer erhalten wir die Chance, auf die wir gehofft hatten. Ein Leben lässt sich nunmal nicht am Reißbrett planen. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass sich immer wieder günstige Gelegenheiten ergeben. Wenn wir an unseren Fähigkeiten arbeiten und einen offenen Geist bewahren, kommen die Chancen von ganz allein. Andere Menschen sind immer an ehrgeizigen Talenten mit besonderen Fähigkeiten interessiert.

Das zeigt auch die Lebensgeschichte von Arnold Schwarzenegger. Im Vorwort des Buchs „Tools der Titanen“ schreibt Schwarzenegger, er sei nicht der Self-Made-Man, als der er häufig bezeichnet wird. Zwar kam er als junger Mann aus einfachen Verhältnissen in die USA und legte dort eine außergewöhnliche Karriere hin. Aber jeder seiner Erfolge sei nur dank der Hilfe seiner Unterstützer möglich gewesen. Er erwähnt seine Eltern, von denen er nützliche Denkweisen übernahm, sowie seine Förderer, die ihn in den USA willkommen hießen. Nur mit ihrer Hilfe wurde er der erfolgreichste Bodybuilder seiner Zeit, verdiente Millionen mit Immobilien, spielte in großen Hollywood-Produktionen und regierte sogar den Staat Kalifornien.

Im vergangenen Jahr las ich seine Biographie „Total Recall“ und wunderte mich beim Lesen oft über sein naives und dreistes Verhalten. Immer wieder schien er wichtige Leute um den Finger zu wickeln und zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Man könnte meinen, Schwarzenegger hätte außerordentliches Glück gehabt. Doch das wäre zu einfach. Aus meiner Sicht erkannte er günstige Gelegenheiten und nutzte sie geschickt zu seinem Vorteil. Nachdem ich seine Biographie gelesen hatte, war für mich völlig klar, weshalb Schwarzenegger so erfolgreich ist. Selbst wenn er nicht die Chance bekommen hätte, Schauspieler und Gouverneur zu werden, hätte er trotzdem außergewöhnliche Fähigkeiten entwickelt. Denn Schwarzenegger verkörpert als Persönlichkeit alle Merkmale eines großen Talents.

Erfolg ist deshalb nicht einfach das Resultat glücklicher Zufälle, sondern das, was wir aus ihnen machen. Solange wir dynamisch denken, stets dazulernen und bei einer Aufgabe von innen heraus motiviert sind, werden sich wichtige Türen für uns öffnen. Vielleicht entsteht dabei kein Bestseller á la Harry Potter und womöglich gründen wir nicht das nächste Facebook, aber wir alle können ein wesentlich höheres Leistungsniveau erreichen, als die meisten von uns glauben, und dann ergeben sich Chancen zu unseren Gunsten.

Besser zu sein, ist oft nicht schwer

Die Wissenschaft des Lernens untersucht überwiegend Disziplinen mit hohem Wettbewerb, messbaren Leistungen und ausgefeilten Trainingsmethoden. Für die Wissenschaft sind das ideale Bedingungen, um herauszufinden, unter welchen Umständen Menschen am effektivsten lernen. Deshalb zitiert die Literatur häufig Beispiele aus dem Leistungssport, der Musik und auch dem Schach. Sie lehren uns, wozu unser Körper sowie unser Geist in der Lage sind, wenn wir beharrlich an einer Fähigkeit arbeiten. Allerdings sind diese Disziplinen für die meisten von uns nur Hobbys – für mich auch. Ich habe keine Ambitionen in irgendeinem dieser Felder. Selbst wenn ich sie hätte, müsste ich aufgrund der hohen Wettbewerbsdichte viel investieren, um außergewöhnliche Fähigkeiten zu entwickeln.

In anderen Bereichen ist es wesentlich leichter, zu den Besten zu gehören – zum Beispiel in einem speziellen Hobby, in einer Schnittmenge von zwei Disziplinen oder im eigenen Beruf. Gerade bei unserer Arbeit begnügen wir uns oft damit, gut genug zu sein. In einem neuen Job lernen wir zunächst alles, was wir können müssen, um die Stellenbeschreibung zu erfüllen. Doch das reicht dann auch. Wir erledigen unsere Arbeit gewissenhaft und machen sogar Überstunden, um unsere Leistungsbereitschaft nachzuweisen, aber wir lernen nur noch wenig dazu. Stattdessen verbringen wir unsere Zeit damit, Aufgaben abzuarbeiten, E-Mails zu beantworten und in Meetings zu sitzen. Wir machen das, was alle machen, und unterscheiden uns bestenfalls darin, mehr Zeit im Büro zu verbringen als die anderen.

Ich schließe mich dabei mit ein. Auch ich durchlebte Phasen, in denen ich mich nicht weiterentwickelte, sondern nur noch beschäftigt war. Je größer und erfolgreicher meine Projekte wurden, desto mehr Zeit verbrachte ich damit, E-Mails zu beantworten, mich um Probleme zu kümmern und den Status Quo zu pflegen. Das ist ein Grund dafür, weshalb ich mehrmals auf einem Plateau hängen blieb und die Lust an der Arbeit verlor. Ich hatte keine Zeit mehr, meine Fähigkeiten zu entwickeln und das Projekt auf ein höheres Niveau zu heben. Das redete ich mir zumindest ein. Häufig entschied ich mich für die leichten Aufgaben, denn 20 E-Mails zu beantworten und die Statistiken zu überprüfen fühlte sich nach Arbeit an. Anschließend hatte ich mir eine Pause verdient. Aber dazugelernt hatte ich nichts.

Weiterentwickeln kann ich mich nur, wenn ich mich an der Grenze meiner Fähigkeiten bewege. Das mache ich zu selten und damit bin ich nicht allein. Doch hier liegt die Chance, sich von anderen abzusetzen. Leichte Arbeit erledigen kann jeder. Aber die Bereitschaft, auch schwere Arbeit zu leisten, ist selten.

Beispiel Reiseblogs: Warum nur wenige erfolgreich sind

Ich möchte diesen Gedanken am Beispiel von Reiseblogs vertiefen, denn ich betreibe seit vier Jahren selbst einen und habe in der Zeit viele Wettbewerber kommen und gehen sehen. Der Markt gilt als gesättigt, denn im deutschsprachigen Raum existieren Tausende Reiseblogs, aber fast niemand kann von dieser Arbeit leben.

Einen Reiseblog ins Netz zu stellen ist leicht. Webhosting und Domain kosten nur wenige Euro im Jahr, die Software ist kinderleicht zu installieren. Man braucht keine besonderen Fähigkeiten und noch nicht einmal spezifisches Wissen. Man schreibt einfach über seine Reisen. Reiseblogger zu werden ist so leicht, dass es jeder kann. Der Wettbewerb unter den Anfängern ist entsprechend groß.

Wer einmal angefangen hat, muss anschließend ein bis zwei Jahre durchhalten, bevor das Projekt nennenswerte Einnahmen abwerfen kann. Ich schätze, dass 90 Prozent aller Blogs nach einem Jahr verwaist sind. Die meisten schon viel früher. Wer länger durchhält, gehört automatisch zu den oberen 10 Prozent. Aber auch unter denen ist der Wettbewerb noch groß. Sie haben ein paar tausend Leser, manchmal auch mehrere zehntausend. Das ist zu viel, um das Projekt abzuschreiben, aber zu wenig, um davon zu leben. Viele Blogger hängen auf diesem Plateau fest. Aber nicht nur auf einem Besucherplateau, sondern auf einem Leistungsplateau, denn sie schreiben Texte, für die der Markt längst gesättigt ist. Solange sie die Qualität ihrer Artikel nicht verbessern, werden sie im Mittelmaß untergehen – dort, wo der Wettbewerb um die leicht zu schreibenden Texte groß ist.

An der Spitze hingegen empfinde ich den Wettbewerb als entspannt. Seit zwei Jahren habe ich kaum an meinem Blog 101 Places gearbeitet, trotzdem wächst er immer weiter. Das habe ich allein dem schwachen Wettbewerb zu verdanken. Mir sind nur wenige Blogs aufgefallen, die in letzter Zeit groß geworden sind. Einer davon ist 22places.de, das Projekt von Sebastian Ritter und Jenny Mitscher. Binnen zwei Jahren haben sich die beiden in die Spitzengruppe der deutschsprachigen Reiseblogger vorgearbeitet und leben zu zweit von ihrer Website. Ich wollte wissen, wie sie das geschafft haben und bat die beiden deshalb um ein Telefonat.

Als wir uns per Skype unterhielten, saßen Jenny und Sebastian in einem Apartment in Thailand. Sie erzählten mir, wie sie im Oktober 2014 erstmals auf die Idee kamen, einen professionellen Reiseblog zu gründen. Bis dahin hatten sie im Tourismus-Management bzw. als Projektmanager in einer Online-Agentur gearbeitet. Nur einen Monat später veröffentlichten sie den Blog. Innerhalb eines Jahres wollten die beiden von dem Projekt leben. Ein ambitioniertes Ziel, das bislang kaum jemand erreicht hatte. Allerdings ließen sich die beiden keine Wahl, denn ihre Ersparnisse reichten nur für das eine Jahr. In dieser Zeit konzentrierten sie sich vollständig auf das neue Projekt, das sie weniger wie einen Blog behandelten, sondern wie ein Unternehmen.

Im Gegensatz zu Hobby-Bloggern schreiben Jenny und Sebastian ihre Texte nicht nach Lust und Laune, sondern nach Bedarf. Sie bearbeiten nur Themen, die den Lesern helfen und den Blog voranbringen. Vor der Arbeit scheuen die beiden nicht zurück. Im Gegenteil, es fällt ihnen schwer, nicht zu arbeiten. In manchen Phasen schuften sie zehn Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche. Sie verkörpern folglich nicht gerade den Traum vom Leben am Strand mit ein bisschen Arbeit nebenher. Nein, die ersten zwei Jahre waren aufreibend. Hin und wieder fühlen sich die beiden deshalb ausgelaugt. Aber ihr innerer Antrieb ist stark. So stark, dass sie für ihre Texte ausführlich recherchieren, mehr als nur das Nötigste schreiben und ihre Fotos gut aufbereiten. Ich habe einige von ihren neuen Artikeln gelesen und musste mir oft eingestehen, dass sie besser sind als meine. Manche ihrer Texte sind tiefer ausgearbeitet, als ich es je könnte. Beim Reisebloggen fehlt mir die Motivation für dieses hohe Niveau. Jenny und Sebastian haben sie und bestätigen mit ihrer Arbeit, dass es in dieser vermeintlich gesättigten Branche innerhalb von zwei Jahren möglich ist, zu den Besten zu gehören.

Diese Branche ist nicht anders als andere Branchen. Überall drängeln sich die meisten Wettbewerber im Mittelmaß. Dort, wo die Arbeit leicht ist. Nur wenn wir etwas leisten, das andere nicht können, werden wir uns gegen sie durchsetzen. Mit dieser Überzeugung arbeiten wir am neuen Healthy Habits. Gut genug waren wir schon. Jetzt wollen wir uns mit jedem Artikel weiter verbessern. Dieser Text enthält alles, was ich zurzeit in mir habe. Der nächste wird hoffentlich noch besser sein. Das jedenfalls strebe ich an.

Dieses Ziel teile ich übrigens mit J.K. Rowling. In einem Interview fragte sie ein Journalist, was sie in ihrem Leben nach Harry Potter noch erreichen wolle. Rowling erwähnte nicht etwa ihre nächsten Bücher oder Lebensziele. Stattdessen antwortete J.K. Rowling, eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen aller Zeiten: „Ich möchte besser werden.“24

Das sind nicht die Worte eines Naturtalents, sondern einer Frau, die sich ihre Fähigkeiten seit vielen Jahren selbst erarbeitet.


Erkenntnisse aus diesem Text

  • Große Talente haben keine besondere Begabung in die Wiege gelegt bekommen. Stattdessen haben sie sich ihre Fähigkeiten durch Training über eine lange Zeit angeeignet.
  • Dennoch sind wir nicht alle gleich. Jeder hat einen eigenen Körper, eine Persönlichkeit und ein bestimmtes Maß an Intelligenz. In manchen Situationen sind sie für uns ein Nachteil, in anderen ein Vorteil. Aber nie ein Garant für Erfolg oder Misserfolg.
  • Der Mensch ist sehr anpassungsfähig, sowohl körperlich als auch geistig. Wir können in allen Bereichen des Lebens außergewöhnliche Fähigkeiten erlangen.
  • Manche Menschen haben ein statisches Selbstbild. Sie glauben, entweder talentiert oder untalentiert zu sein. Dynamisch denkende Menschen hingegen sind überzeugt, dass sie jede Fähigkeit erlangen können, wenn sie nur intensiv genug trainieren.
  • Lernen entsteht nicht allein aus Erfahrung. Wer immer wieder das tut, was er schon kann, lernt nichts dazu. Am effektivsten lernen Menschen dazu, wenn sie sich stets an der Grenze der eigenen Fähigkeiten bewegen.
  • Um den anstrengenden Lernprozess auf Dauer durchzuhalten, braucht man einen starken Antrieb, der von innen kommt. Die drei Bedingungen für intrinsische Motivation sind Autonomie, Können und Sinnerfüllung. Wer diesen Antrieb nicht entwickelt, wird immer nur „gut genug“ bleiben.
  • Im Verlauf unseres Lebens sind wir auf günstige Gelegenheiten angewiesen. Insbesondere die familiäre Herkunft beeinflusst unseren Lebensweg entscheidend. Manchmal bekommen wir nicht die Chance, die wir wollen. Doch wer sich anstrengt und günstige Gelegenheiten erkennt, dem werden sie sich immer wieder bieten.
  • In manchen Disziplinen ist es sehr schwer, zur Leistungsspitze aufzuschließen. Doch in den vielen Bereichen ist es leicht, zu den Besten zu gehören, denn fast alle anderen geben sich damit zufrieden, gut genug zu sein. Vor allem in der täglichen Arbeit kann man mit der richtigen Denkweise, kontinuierlichem Lernen und einem starken Antrieb andere schnell überholen.

Vorschau: In meinem nächsten Text widme ich mich ausschließlich dem Bewussten Lernen. Mit dieser effektiven Methode können wir unsere Fähigkeiten in einer Disziplin unserer Wahl deutlich verbessern. Ich zeige Wege auf, wie ich bewusstes Lernen in meiner Arbeit anwende und wie andere Menschen aus meinem Umfeld ihre Fähigkeiten kontinuierlich verbessern.


Relevante Bücher zum Text

K. Anders Ericsson: Top – Die neue Wissenschaft vom Lernen: Viele Autoren beziehen sich auf Ericssons Studien. Im Jahr 2016 veröffentlichte er endlich ein eigenes Buch über die Wissenschaft des Lernens. Es war nicht das erste Buch, das ich zu diesem Thema gelesen habe, aber das Beste.

Carol Dweck: Selbstbild – Wie unser Denken Erfolge oder Niederlagen bewirkt: Dieses Buch beschreibt den Unterschied zwischen einer statischen und einer dynamischen Denkweise. Es ist das am häufigsten zitierte Werk zu diesem Thema. Wenn es dir möglich ist, lies lieber das englischsprachige Original „Mindset“.

Daniel Coyle: The Talent Code – Greatness isn’t born, it’s grown: Der Autor geht in diesem Buch der Frage nach, wie Talent entsteht. Nämlich durch bewusstes Lernen, einen zündenden Moment (Motivation) und gutes Coaching. Eine gute Ergänzung zu „Top“ von K. Anders Ericsson.

Malcolm Gladwell: Überflieger – Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht: „Überflieger“ ist kein Ratgeber, dessen Tipps man befolgen könnte. Nein, Gladwell ist ein großer Geschichtenerzähler. Er geht den Ursprüngen von Erfolgen und Misserfolgen auf den Grund und zeigt u. a., dass neben harter Arbeit auch der Zufall eine große Rolle spielt.

Daniel H. Pink: Drive – Was Sie wirklich motiviert: Der Autor unterscheidet drei Arten von Motivation. Dabei ist der „Drive 3.0“ das einzige, was uns zu außergewöhnlichen Leistungen antreibt. Unter welchen Bedingungen wir intrinsisch motiviert sind, beschreibt er in diesem Buch.


Quellen

Ähnliche Artikel

Quellen

  1. BBC: Harry Potter and Me
  2. Bloomsbury: J.K. Rowling Kurzbiographie
  3. Daniel Coyle: The Talent Code
  4. K. Anders Ericsson: Top – Die neue Wissenschaft vom Lernen
  5. Freakonomics Podcast mit K. Anders Ericsson: How to Become Great at Just About Everything
  6. Wikipedia: Suzuki-Methode: Ein Musikerziehungskonzept, bei dem Kinder ab drei Jahren Musik mit Instrumenten gelehrt wird. Der Gründer dieser Lehrmethode ist der japanische Violinist Shinichi Suzuki. Er war der Auffassung, musikalisches Talent sei nicht angeboren, sondern kann Kindern anerzogen werden.
  7. Wikipedia: List of shortest Players in NBA history
  8. Malcolm Gladwell: Überflieger – Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht
  9. The Yale Center for Dyslexia and Creativity: Interview mit John Irving
  10. TV Total: Calisthenics mit Sven und Axel
  11. Guiness-Buch der Rekorde: Die meisten Liegestütze in 24 Stunden
  12. Guiness-Buch der Rekorde: Die meisten Klimmzüge in 24 Stunden
  13. Für mehr Informationen zu diesen Techniken empfehle ich Joshua Foers Buch Alles im Kopf behalten.
  14. TED-Talk von Joshua Foer: Gedächtnisleistungen für jedermann
  15. Eintrag zu Nervenzellen bei Wikipedia
  16. Angela Duckworth: Grit – The Power of Passion and Perseverance
  17. Carol Dweck: Selbstbild – Wie unser Denken Erfolge und Niederlagen bewirkt
  18. Youtube: Oprah Winfrey und J.K. Rowling
  19. SPIEGEL ONLINE: Mick Schumacher steigt in Formel 3 auf
  20. Daniel Coyle: The Talent Code
  21. Online Marketing Rockstars: Der Coupons4u-Gründer im OMR-Podcast-Interview
  22. ZEIT ONLINE: Kinder aus bildungsfernen Familien bleiben abgehängt
  23. Kürzlich las ich das Buch Hillbilly Elegy. Es sind die Memoiren des jungen Autors J.D. Vance. Er erzählt von seiner Jugend in der amerikanischen Unterschicht und wie er beinahe in ihr untergegangen wäre. Ein fantastisches Buch darüber, was es bedeutet, in der westlichen Welt unter prekären Verhältnissen aufzuwachsen.
  24. ITV: J.K. Rowling – A Year In The Life

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