Warum dein Bauch mehr weiß, als dein Verstand glaubt

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Es ist erst wenige Wochen her, dass ich einen Artikel über das Bauchgefühl verfasste. Darin schrieb ich, wie man sich mithilfe seiner Intuition vor Enttäuschungen schützt. Ich glaubte an mein Bauchgefühl, denn ich war nie negativ überrascht worden. Wenn Beziehungen zu anderen Menschen mal zerbrachen, ahnte ich vorher, dass es böse enden würde. Daher schrieb ich in jenem Beitrag:

„Ich habe mich noch nie richtig enttäuscht gefühlt. Bei den Menschen, denen ich mit meinem Bauchgefühl folge, passiert das (bisher) nicht.“

Anschließend ließ ich den Text in der Versenkung verschwinden, denn kurz vor der Veröffentlichung enttäuschte mich jemand schwer. Ich schämte mich vor mir selbst, vor Jasmin, die meine Gedanken schon kannte, und vor den potentiellen Lesern. Ich schämte mich dafür, so großkotzig über mein unfehlbares Bauchgefühl zu schreiben. In dem einen Moment war ich mir noch so sicher, im nächsten stellte jemand meine Überzeugung infrage.

Nach ein paar Tagen wollte ich mich nicht weiter mit ihm und seinen Beweggründen beschäftigen, aber ich wollte auch nicht zynisch werden. Ich wollte nicht bei jedem neuen Menschen zuerst vom Schlechten ausgehen, nur weil mein Verstand sagt: „Es könnte schief gehen!“ Stattdessen wollte ich weiter an mein Bauchgefühl glauben, denn es trifft meistens gute Entscheidungen. Doch ich brauchte etwas gutes Zureden, um meine Meinung zu stützen. Daher las ich das Buch Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft des niederländischen Autors Bas Kast.

In zwei Tagen las ich das Buch durch. Anschließend war und bin ich überzeugt: Ich sollte noch häufiger auf mein Bauchgefühl hören, denn Intuition ist keine irrationale Eingebung. Außerdem erfuhr ich beim Lesen, weshalb besagter Freund mich so enttäuschte. Er tat etwas, das typisch für ihn, aber auch für andere – vermeintlich – rationale Menschen ist (dazu später mehr). Im Folgenden möchte ich dir zeigen, weshalb du nicht immer auf deinen Verstand hören und stattdessen dein Bauchgefühl ernster nehmen solltest.

Das Zusammenspiel von Gefühlen und Verstand

Viele Menschen glauben, sie müssten Entscheidungen möglichst rational treffen, indem sie Informationen sammeln, Vor- und Nachteile abwägen und stichhaltige Argumente formulieren. Gefühle haben dabei nichts verloren. Auch ich würde mich als nüchtern-rational bezeichnen und sichere mich gern mit Argumenten ab. Kann ich eine Entscheidung nicht erklären, ist mir das unangenehm. Doch das ist unbegründet, denn die Realität sieht anders aus. Denken und Fühlen lassen sich nicht voneinander trennen. Jeder Gedanke, jede Erinnerung, jede Wahrnehmung wird von Gefühlen begleitet – ob wir wollen oder nicht.

Für mich wird das deutlich, wenn ich meine Gedanken im Zeitverlauf beobachte. Ich möchte das an einem Beispiel erklären: Wie zufrieden bin ich mit meinen Freundschaften? Die Antwort hängt davon ab, wann ich mir die Frage stelle.

Gestern verbrachte ich einen großen Teil des Tages bei Jasmin. Wir waren zum Frühstück verabredet, nahmen uns Zeit für ein gutes Gespräch, waren inspiriert, schrieben an unseren jeweiligen Texten und spielten uns Ideen zu. Zwischendurch gab’s ein leckeres Mittagessen. Am Abend fuhr ich direkt zu einer Veranstaltung, wo ich mich mit zwei anderen Freunden traf. Wir erlebten gemeinsam das Event, anschließend gingen wir Essen, bis wir herauskomplimentiert wurden, dann zogen wir weiter, weil es so schön war und tranken noch etwas in einer Bar, bis auch diese schloss. Es war von Anfang bis Ende ein toller Tag. Ich war mit meinen Freunden zusammen, hatte die besten Gespräche und war äußerst zufrieden mit meinen Freundschaften. Gestern dachte ich, das sei die Antwort.

Heute ist ein neuer Tag. Ich habe noch die schönen Erinnerungen an gestern, schreibe diesen Text, nachher gehe ich noch zum Sport und anschließend zu einer Lesung. Freunde sehe ich heute allerdings nicht mehr und voraussichtlich auch nicht in den nächsten drei Tagen. Es wird folglich ein ruhiges Wochenende, ich muss mich selbst beschäftigen und frage mich, ob ich nicht zu wenige Freunde habe, die ich jederzeit ansprechen kann. Aber immerhin habe ich ein paar sehr gute. Heute denke ich, das ist die Antwort. Meine Gedanken haben sich folglich geändert, weil heute kein perfekter Tag ist, sondern ein normaler.

Vor ein paar Wochen erfuhr ich von dem oben genannten Vertrauensbruch. Es brauchte zwei Tage, bis es richtig zu mir durchsickerte, doch dann kam es mit voller Wucht. Am dritten Tag war ich tieftraurig. Aber nicht nur das: Ich war auch voller Zweifel. In diesem emotionalen Loch sah ich die Lage in einem anderen Licht: „Wenn diese eine Freundschaft von heute auf morgen enden kann, was sind dann meine anderen Freundschaften wert? Was weiß ich überhaupt von Freundschaft? Ich rede ständig davon, und dann sowas!“ Ich fühlte mich einsam und dachte, es würde für immer so bleiben. In jenem Moment war das für mich die Antwort.

Natürlich war auch das keine realistische Antwort auf die Frage, wie zufrieden ich mit meinen Freundschaften bin. Es gibt nicht die eine so-ist-es-wirklich-Antwort. Fühle ich mich gut, wird meine Realität etwas farbiger, fühle ich mich schlecht, ist alles grau. Deswegen sollte man in einem Stimmungstief keine richtungsweisenden Entscheidungen treffen, aber auch nicht in einem Stimmungshoch.

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Das bedeutet jedoch nicht, dass wir ohne Gefühle die rationalsten Entscheidungen treffen würden. Im Gegenteil, wir wären nicht mehr in der Lage, überhaupt noch Entscheidungen zu treffen, denn der Verstand weiß ohne Gefühle nichts mit sich anzufangen. Das zeigen Untersuchungen an Menschen, die die Fähigkeit zum Fühlen verloren haben. Der bekannteste Fall heißt Elliot, ein Patient des Neurowissenschaftlers António Damásio. Elliot wurde aufgrund eines Gehirntumors ein Teil des Stirnlappens entfernt. Nach dem Eingriff wurde er als gesund entlassen, war genauso intelligent wie vorher und dennoch nicht mehr fähig seiner Arbeit nachzugehen. Er verzettelte sich bei den kleinsten Entscheidungen, grübelte Ewigkeiten und entschied sich dennoch willkürlich, denn für ihn fühlte sich jede Entscheidung gleich an: nach nichts. Bald stellte man fest, dass Elliot seine Gefühlswelt fast vollständig abhanden gekommen war.

„Wer denken will, muss fühlen“ – Bas Kast.

Auch an Menschen, denen nur ein Gefühl fehlt, sieht man, dass sie in bestimmten Situationen keine rationalen Entscheidungen treffen. Eine Frau, die keine Angst kennt, begibt sich trotz Warnungen immer wieder in Gefahr. Ein Junge, der keine Schmerzen empfindet, ist Stammgast im Krankenhaus und geschunden wie ein alter Mann. Zwar versteht ihr Verstand die Signale, die normalerweise Gefühle wie Angst und Schmerz auslösen, aber diese Menschen passen ihr Verhalten trotzdem nicht an. Folglich braucht der Verstand Gefühle, um gute Entscheidungen zu treffen.

Neben dem Verstand sind Gefühle eine eigene Form von Intelligenz. Wir Menschen haben ein emotionales Erfahrungsgedächtnis, aus dem sich unser Unterbewusstsein bedient. Manche „Erfahrungen“ stecken schon in unserer DNA. Aus diesen rühren Instinkte wie die Angst vor Schlangen oder der Ekel vor verdorbenen Lebensmitteln. Andere Erfahrungen machen wir selbst und bekommen deshalb automatisch schlotternde Knie, wenn der nächste Zahnarzttermin ansteht (zumindest Menschen wie ich, die schon in jungen Jahren „schlechte“ Erfahrungen beim Zahnarzt gesammelt haben).

Erleben wir etwas, das uns bewusst oder unbewusst an eine positive Erfahrung erinnert, reagiert der Bauch mit Gänsehaut, Wärme, Freude oder einem Kribbeln. Auf negative Erfahrungen reagiert er mit Schmerzen, einem dumpfen Druck, Verkrampfung oder Zittern. Solche Reaktionen bezeichnet der Wissenschaftler António Damásio als somatische Marker. Diese Gefühle sind Rückmeldungen aus unserem Unterbewusstsein, die auf Erfahrungen aus der Vergangenheit beruhen. Sie dienen uns als innerer Kompass, der uns zeigt, wie wir handeln sollen, um uns wohlzufühlen.

Die Kapazität von Bewusstsein und Unterbewusstsein

Unser Verstand macht einen großen Fehler: Er überschätzt sich selbst. Er meint, alle Informationen aufnehmen zu können, die auf uns einprasseln und ist sich sicher, diese zu einer rationalen Entscheidung verarbeiten zu können. Diese Einschätzung könnte nicht weiter von der Realität entfernt liegen! Unser Bewusstsein kann pro Sekunde bis zu 50 Bits verarbeiten (Bit = Maßeinheit für Informationsgehalt). Wie wenig das ist, zeigt der Vergleich: Insgesamt prasseln in jeder Sekunde etwa 11 Millionen Bits auf uns ein. Das Auge allein sendet 10 Millionen Bits ans Gehirn, die Haut 1 Million Bits, das Ohr und die Nase jeweils 100.000 Bits und der Geschmackssinn 1.000 Bits.

Nur mickrige 50 Bits davon gelangen in unser Bewusstsein. Der Rest der Information verschwindet nicht, sondern landet im Unterbewusstsein. Dieses kann folglich viel schneller viel mehr Informationen verarbeiten und speichern. In jeder Sekunde nimmt es erneut 11 Millionen Bits auf und gleicht sie mit dem Erfahrungsgedächtnis ab. Die Gefühle, die es ans Bewusstsein sendet, spüren wir schon nach 200 Millisekunden als Bauchgefühl bzw. Intuition.

Unser Verstand hat allerdings andere Stärken. Er ist außerordentlich gut darin, sich auf ein spezifisches (kleines) Problem zu konzentrieren. Mit ihm bringen wir Ordnung ins Leben und können für die Zukunft planen, anstatt nur spontanen Eingebungen zu folgen. Nur mit dem Verstand und die durch ihn mögliche Sprache können wir in Konzepten denken, wie z. B. morgen oder gestern oder nächstes Jahr. Im Unterbewusstsein hingegen ist alles unsortiert, es kann sich auf nichts Bestimmtes konzentrieren, sondern gibt uns nur Impulse in Form von Gefühlen.

Warum wir uns mit Entscheidungen schwer tun

Wir vereinen zwei Ich in uns. Das bewusste Ich und das unbewusste Ich. Beide haben das gleiche Ziel: glücklich sein. Aber sie funktionieren auf unterschiedliche Weise, die ich vereinfacht so ausdrücken würde:

  • Das bewusste Ich will in Zukunft glücklich sein
  • Das unbewusste Ich will jetzt glücklich sein

Unser Verstand versucht Entscheidungen zu treffen, mit denen wir auf lange Sicht zufrieden sind – unter Berücksichtigung äußerer Umstände, die uns von unserem Ziel abhalten könnten. Morgens zur Arbeit zu gehen, obwohl man seinen Job hasst oder einfach keine Lust hat, ist eine solche rationale Entscheidung. Wir brauchen schließlich Geld, um zu leben und uns Güter zu leisten, die das Leben angenehmer gestalten. Spätestens wenn wir in Rente gehen, können wir es uns immer noch gut gehen lassen. Auf diese Weise organisiert der Verstand das Leben und arbeitet auf eine glückliche Zukunft hin. Allerdings besteht die Gefahr, dass wir das Glück immer weiter hinausschieben, es aber nie erreichen.

Das Unterbewusstsein hingegen lässt uns über Gefühle spüren, ob eine Entscheidung jetzt gut oder schlecht für uns ist. Wenn die Erfahrung sagt, dass ein Tag im Büro eher bescheiden wird, spüren wir das in Form von Beklemmungen, Unlust oder ähnlichen Gefühlen. Entscheidungen aus dem Bauch heraus sind das, was wir wirklich wollen, wenn wir alle Rationalität außen vor lassen. Allerdings sind Bauchentscheidungen nicht immer vernünftig, vor allem wenn wir Teil einer gut organisierten Gesellschaft sein wollen.

Der Bauch weiß ziemlich genau, was er will (bzw. wir wollen). Aber wir vertrauen ihm oft nicht, da wir eine wichtige Entscheidung nicht nach einer spontanen Eingebung treffen wollen. Wir brauchen Fakten, Fakten, Fakten! Wir wollen sicher gehen, keine bessere Option zu verpassen, wir haben Angst nicht mehr zurück zu können und wir wollen unsere Entscheidung begründen können. Vor uns selbst und vor anderen. Wir wollen auch nicht widersprüchlich sein, sondern konsistent in unserem Handeln. Mit anderen Worten: Wir wollen perfekt sein. Das sind Rationalisierungen, die von unserem bewussten Ich ausgehen.

Wenn beide Ich etwas anderes wollen, spüren wir das durch eine innere Zerrissenheit: Will ich jetzt glücklich sein oder später? Beides kann seine Berechtigung haben. Es kommt ganz auf die Situation an.

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Hier erkenne ich meinen Freund wieder, der mich enttäuschte. Schon vor seiner Entscheidung fühlte er sich schlecht, litt unter „Stresszuckungen“. Hinterher sprach er von Stresshormonen, Schlaflosigkeit, noch mehr Zuckungen und einem schwachen Immunsystem. Von außen betrachtet sind das eindeutige Zeichen, die ihn vor seiner Entscheidung hätten bewahren sollen oder die ihn dazu bewegen könnten, seine Entscheidung umzukehren (das wäre teilweise möglich). Aber er tat, was viele Menschen tun: Er rationalisierte so lange, bis er genügend Argumente beisammen hatte, die für ihn selbst den Vertrauensbruch rechtfertigen und er zählte sie mir alle auf. Ich verstehe seine Logik, ich weiß wohin er will, nämlich in fünf oder zehn Jahren glücklich sein. Aber er bezahlt einen hohen Preis und nach allem, was ich heute über unseren begrenzten Verstand weiß, wird sein Plan wohl nicht aufgehen, was es noch sinnloser macht.

Nicht immer sind Entscheidungen so extrem, aber ich erkenne hier den Ursprung des Unglücks vieler Menschen: Sie wollen nicht heute glücklich sein, sondern später.

Anleitung zur besten Entscheidung

Sowohl unsere Intuition, als auch unser Verstand haben ihre Stärken und Schwächen. Um die bestmögliche Entscheidung zu treffen, sollten wir beide das machen lassen, was sie gut können.

Entscheidungen mit geringer Komplexität treffen wir am besten mithilfe des Verstands. Wenn es nur wenige Informationen gibt, können wir uns ganz bewusst darauf konzentrieren, Vor- und Nachteile abwägen und eine Entscheidung treffen. Wiederholen sich solche kleinen Entscheidungen immer wieder, werden sie irgendwann zur Gewohnheit, sodass wir sie nicht mehr bewusst treffen müssen. Eine geringe Komplexität setzt voraus, dass die Entscheidung nur Auswirkungen auf die nahe Zukunft hat. Längere Zeiträume kann unser Verstand nicht überblicken.

In Situationen mit hoher Komplexität und vielen Informationen sieht die Lage schon anders aus. Unser Bewusstsein versinkt schnell im Informationsdschungel und taugt dann nicht mehr für gute Entscheidungen. Dennoch hat der Verstand eine wichtige Aufgabe: Er ist gut darin, gezielt relevante Informationen zu sammeln, indem wir z. B. Bücher lesen, andere Menschen befragen oder etwas erleben. Mithilfe des Verstands werden wir so zu Experten auf dem Gebiet. Allerdings ist eine rationale Entscheidung bei so vielen Informationen nicht mehr möglich. Unser Verstand ist nicht in der Lage, die Fülle der Informationen zu verarbeiten. Aber das Unterbewusstsein kann es! Dieses kommt mit Komplexität besser zurecht. Anstatt nur 50 Bits pro Sekunde aufzusaugen, nimmt es schließlich 11 Millionen Bits auf. Das Unterbewusstsein komprimiert diese Informationen zu einer Intuition. Das macht es umso besser, je mehr Zeit wir ihm dafür lassen. Der Trick ist folglich, dem Unterbewusstsein Zeit zu geben, um Informationen zu sammeln und zu verarbeiten – ohne mit dem Verstand dazwischenzufunken.

Wissenschaftler nennen dies Inkubationszeit: Die Zeit, in der man nicht bewusst über ein Problem nachdenkt. Im Sprachgebrauch reden wir häufig davon, mal eine Nacht über etwas schlafen zu müssen. Das ist oft nur daher gesagt, aber es funktioniert wirklich. Wichtig ist, sich ohne Stress diese Zeit zu nehmen. Die Intuition kommt dann im Schlaf, beim Joggen oder auch beim Meditieren, wenn wir angestrengt nicht nachdenken. Ich habe meine kreativsten Geistesblitze, wenn ich abends im Bett liege, spazieren gehe, entspanne, mir einen Kaffee koche oder kurz zur Toilette gehe.

Komplexe Entscheidungen erfolgen in zwei Schritten:

  1. Bewusst Informationen sammeln und zum Experten werden
  2. Der Intuition Zeit geben und aus dem Bauch heraus entscheiden

Ein gutes Beispiel für eine solche Entscheidung ist der Kauf einer neuen Kamera. Aufgrund der großen Auswahl und den technischen Details, ist das ein komplexer Vorgang. Wenn du keine Ahnung hast, kannst du den Prozess abkürzen, indem du den Empfehlungen anderer Menschen folgst.

Oder du machst dich an die Arbeit und sammelst zunächst Informationen. Du machst dir Gedanken über deine Ansprüche und definierst daraus Kriterien. Mit etwas Glück kannst du die Auswahl auf drei Kameras einschränken. Im nächsten Schritt wirst du zum Experten für diese drei Modelle. Du schreibt alle Leistungsmerkmale auf und berücksichtigst auch Kriterien wie Rezensionen und den Preis. Vielleicht greifst du auf die gute alte Pro-Contra-Liste zurück. Sie ist ein nützliches Tool – wenn du sie richtig einsetzt. Auf dieser Liste hältst du für jede Kamera alle Kaufkriterien fest. So stellst du sicher, alle relevanten Informationen beisammen zu haben. Wenn du ein fortgeschrittener Pro-Contra-Listen-Nutzer bist, wirst du die Kriterien noch gewichten. Das ist theoretisch eine gute Idee, allerdings wirst du die Gewichtung falsch ansetzen, da allein das schon so komplexe Entscheidungen für die Zukunft sind, die der Verstand nicht leisten kann. Der Verstand schätzt falsch ein, was uns wirklich wichtig ist. Aber mach’s ruhig trotzdem. Mach die Listen so rational, wie es geht!

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Nun hast du je eine Pro-Contra-Liste für drei Kameras mit jeweils 20 Kriterien (geschätzt). Im Idealfall rechnest du das Ergebnis noch nicht aus, sondern lässt die Listen ein oder zwei Tage liegen und denkst nicht weiter darüber nach. Anschließend ziehst du einen Strich drunter und rechnest die einzelnen Punkte zusammen. Die Kamera mit den meisten Pro-Argumenten (gewichtet) wirst du kaufen.

Wie fühlt sich das an?

Was geht in dir vor, jetzt, da du das Ergebnis vor dir siehst? Freust du dich auf deine neue Kamera oder bist du ein bisschen frustriert und beginnst zu prüfen, ob du die Kriterien richtig gewichtet hast? Du spürst in diesem Moment deine Intuition, die dir sagt, was du wirklich willst. Das Gefühl ist nicht nur eine spontane Eingebung, sondern basiert auf den Informationen, die du vorher gesammelt hast (allerdings nicht nur auf den nüchternen Daten). Wenn du mit deinem Kauf zufrieden sein möchtest, solltest du auf dein Bauchgefühl hören.

Wenn ich technische Geräte kaufe, treibe ich es nicht mit Pro-Contra-Listen auf die Spitze, aber ich vertraue meistens auf mein Bauchgefühl – selbst, wenn das Gerät über meiner willkürlich gesetzten Preisgrenze liegt. Hätte ich schon beim Kauf kein gutes Gefühl, glaube ich anschließend erst recht, die falsche Wahl getroffen zu haben.

Wenn du den Bauch nicht hörst

Um den Bauch sprechen zu hören, brauchst du zunächst Informationen und dann Ruhe (Inkubationszeit). Das bedeutet, nicht bewusst über die Fragestellung nachzudenken, sondern das Problem beiseite zu legen. Je länger du Argumente wälzt, desto schlechter wird die Entscheidung, denn du redest dir immer mehr ein zu glauben, was dir in Zukunft wichtig sein wird. Auf diese Weise entfernst du dich immer mehr von dem, was dir jetzt wichtig ist.

Als ich von dem Vertrauensbruch des Freundes erfuhr, war ich in den ersten Tagen überfordert. Er schrieb mir lange Rationalisierungen und eine andere Person, die von dem Vertrauensbruch betroffen war, redete wütend auf mich ein. Ich hatte selbst keine Ahnung, wie ich reagieren würde, da ich einerseits gestresst war und zusätzlich in ein emotionales Loch rutschte. Nach zwei Tagen brach ich den Kontakt zu beiden Seiten ab, um zur Ruhe zu kommen. Nach einer Weile näherte ich mich emotional wieder dem Normalzustand an und langsam stellte sich ein Bauchgefühl ein. Jetzt weiß ich, wie ich mit der Situation umgehe und bemühe mich nicht um Rechtfertigungen.

Zusätzlich kann es helfen, dir die Entscheidungsalternativen bildlich vorzustellen. Dies empfehlen sowohl Damásio als auch Bas Kast, denn unser Erfahrungsgedächtnis reagiert stark auf Bilder. Sprache hingegen ist unser bestes Mittel zur Rationalisierung. Sie hilft nicht weiter, um sich Gefühle bewusst zu machen.

Aber was ist, wenn der Bauch gemischte Gefühle sendet, wie z. B. Freude und Angst? Das ist typisch, wenn wir über einen Jobwechsel oder den Sprung in die Selbständigkeit nachdenken. Einerseits freuen wir uns über eine neue Aufgabe mit vielen Chancen, haben aber auch Angst vor den Risiken oder davor, die Kündigung einzureichen. In dieser Situation befand sich Jasmin vor anderthalb Jahren. Damals erstellte sie eine Pro-Contra-Liste, mit der sie nicht weiterkam und ihr Bauch redete in verschiedenen Sprachen. Letztens fragte sie mich, was denn dafür die Lösung sei. Eine andere Freundin stellte mir exakt die gleiche Frage. Ich würde sie gern beantworten, aber kann es nicht. Vielleicht sollten sie sich nur die Chancen bildlich vorstellen oder ihre eingebaute Angst rationalisieren („Was kann wirklich passieren?“). Vielleicht sollten sie andere Menschen um Rat fragen, die nicht von ihren Gefühlen durchgeschüttelt werden. Die Psychologin Maja Storch empfiehlt bei einem Gefühlschaos, die einzelnen Gefühle voneinander zu trennen und zu bewerten: Auf einer Skala von 1 bis 100: Wie positiv ist das positive Gefühl und wie negativ ist das negative Gefühl? Beides sollte man auf Papier aufzeichnen.

Ich weiß nicht, was in solchen Situationen wirklich funktioniert. Das Bauchgefühl hat seine Grenzen. Ich weiß nur, dass es beiden gelang, trotz Zweifeln die richtige Entscheidung zu treffen.

Die Grenzen des Bauchgefühls

Der Bauch weiß ziemlich genau, was er will. Trotzdem muss er nicht immer recht haben. Manchmal führt uns das Unterbewusstsein in die Irre, wenn es uns ein Gefühl schickt, das für die Situation nicht relevant ist. Vielleicht erinnert mich die Nase des neuen Kollegen unbewusst an einen Menschen, mit dem ich mal schlechte Erfahrungen gemacht habe. Das hat herzlich wenig mit dem Kollegen zu tun.

Auch in anderen Situationen ist es sinnvoll, nicht jedem Gefühl zu folgen. Sonst würde ich nie wieder zum Zahnarzt gehen, bis heute keinen Käse essen, weil ich mich früher davor ekelte oder jedes Meeting nach fünf Minuten verlassen, weil mir danach ist. Wer nur spontanen Eingebungen folgt, bräuchte keinerlei Pläne mehr machen, würde keine Beziehung aufrechterhalten können und auch sonst nichts auf die Reihe bekommen. Vor allem bei emotionalen Schwankungen sind wir gut beraten, den Verstand einzubeziehen oder für den Moment keine Entscheidung zu treffen.

Genauso wenig ist der Kopf besser als der Bauch. Ein Verstand ohne Gefühle trifft keine rationalen Entscheidungen, sondern willkürliche, wie das Beispiel Elliot zeigt. Unterdrücken wir unser Bauchgefühl zu oft, besteht die Gefahr, unser Glück mit allerlei Rationalisierungen vor uns her zu schieben, ohne es je zu erreichen. Wir werden unglücklich.

Die besten Entscheidungen entstehen, wenn wir beide Systeme miteinander abgleichen. Wir tun deshalb gut daran, sowohl auf den Kopf, als auch auf den Bauch zu hören und ihre jeweiligen Grenzen zu kennen. Die Psychologin Maja Storch empfiehlt als Faustregel, zu zwei Dritteln dem Bauch zu folgen und zu einem Drittel dem Kopf, um kurzfristige Gefühle der Unlust zu überwinden. Würden wir uns diesen Rat zu Herzen nehmen, wären wir vielleicht alle ein bisschen glücklicher.


Fotos: Jetzt oder später, Papier und Glühbirne, Pro und Contra, Frau mit Stift und Papier von Shutterstock

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