Warum wir gewinnen, wenn wir verlieren

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Zum Glück hatte ich noch nichts bestellt, als ich ohne einen Cent beim Bäcker stand. Mein Geld war mir auf dem Weg aus der Hosentasche gerutscht. Also rannte ich den Weg zurück nach Hause und hoffte das Beste. Zu meiner Überraschung lagen die Scheine noch auf dem Gehweg. Ich steckte sie ein und war froh – über 30 Euro, die ich verloren und wiedergefunden hatte. Ich fühlte mich reicher als vorher.

Genauso empfand ich, als ich beim Ausmisten einen 50-Euro-Schein in meinem alten Sparschwein entdeckte. Ich hatte ihn zwar nicht wirklich gewonnen – aber ca. 15 Jahre lang vergessen gehabt. Solche Überraschungen erlebe ich nicht nur mit Geld. Ich freue mich auch, wenn ich ein verschollen geglaubtes Kleidungsstück wiederfinde oder der als verspätet angekündigte Zug doch noch pünktlich kommt.

Was diese Situationen verbindet, ist der potentielle Verlust, den ich vor Augen habe. Er lässt meine Erwartungen sinken. Bleibt der Verlust dann aber aus, werden meine Erwartungen übererfüllt. Das wertet mein Gehirn als Gewinn oder mit anderen Worten: ich bin glücklich. Schließlich ist Glück = Realität – Erwartungen.

Alles ist relativ

Gewinnen ist also irgendwie relativ. Deshalb strahlen Drittplatzierte auch mehr Zufriedenheit aus als Zweitplatzierte. Während der Silbermedaillen-Gewinner den Sieg knapp verpasst hat, steht der Bronze-Gewinner gerade noch so auf dem Treppchen. Er weiß, wie blöd es erst wäre, Vierter zu sein.1 Laut Eckart von Hirschhausen haben Verluste auf uns Menschen eine stärkere Wirkung als Gewinne. Er schreibt: „Wir ärgern uns mehr, wenn etwas zehn Prozent teurer wird, als dass wir uns in gleichem Maße freuen, wenn etwas zehn Prozent günstiger wird. Zehn Prozent mehr Gehalt ist schnell nichts Besonderes mehr. Aber eine zehnprozentige Kürzung ärgert uns bis zur Rente und darüber hinaus.“2

Wir geben ungern wieder her, was wir uns erkämpft haben. Das ist kein Geheimnis. Aber wie sehr schätzen wir eigentlich, was wir besitzen? Denken wir nur mal für einen Moment an unsere Ausweise und Geldkarten, an das Handy und die Schlüssel, die wir heute nicht verloren haben. Bedanken wir uns jeden Tag bei ihnen? Natürlich nicht. Wir sind ja nicht verrückt.

Mein Schlüsselbund wurde mir 2013 bei einem Umzug gestohlen. Im Internet las ich daraufhin von Horrorszenarien und machte mich auf fünfstellige Schadenssummen gefasst. Doch insgesamt verlief die Sache glimpflich. Es kam nicht einmal zu großen Zahlungen. Ich war froh darüber und spüre seitdem zumindest eine gewisse Erleichterung, wenn ich meine (nachgemachten) Schlüssel am Haken sehe oder in meiner Tasche ertaste.

Etwas vorübergehend verlieren

Wir lernen Dinge auch zu schätzen, wenn wir sie vorübergehend verlieren oder absichtlich eine Weile darauf verzichten. Diesen Effekt mache ich mir immer mal wieder zunutze. Ich gehe beispielsweise campen, weil ich mich danach wieder über mein Bett, den Kühlschrank, den Herd und die Privatsphäre freue. Für mich fühlt sich das an, wie den Kopf zurücksetzen. Man fährt den Luxus auf ein Minimum zurück und kommt sich zu Hause wieder wie im Paradies vor. Aber lassen wir diese materiellen Dinge einmal beiseite und denken an Möglichkeiten, die wir vorübergehend verlieren können.

Ich werde beispielsweise ungenießbar, wenn ich Hunger habe. Umso krasser habe ich ein Erlebnis von vor zehn Jahren in Erinnerung. Damals lag ich ein paar Tage mit ungeklärten Bauchschmerzen im Krankenhaus. Da die Ärzte eine Operation nicht ausschlossen, musste ich nüchtern bleiben. Die ersten sechs Stunden lang war das kein Problem, aber nach zehn Stunden war ich ausgehungert. Ich roch Dinge, die ich sonst nie bemerkt hätte – z. B. den Apfel in meinem Nachtschrank. Noch kein Apfel hatte jemals so verführerisch gerochen. Das ganze Zimmer duftete danach. Schließlich durfte ich wieder essen – und der Reiz von Äpfeln nahm wieder ab. Genauso wenig freue ich mich heute ständig darüber, essen und trinken zu dürfen.

Ein bisschen dankbarer bin ich dafür, dass meine Hüfte wieder richtig funktioniert. Vor zwei Jahren (unsere langjährigen Leser erinnern sich vielleicht) hatte ich Probleme, wenn ich länger als eine halbe Stunde zu Fuß unterwegs war. Schließlich kam es zur OP. Allerdings waren die Aussichten unklar. Spätestens nach dem Gespräch mit dem Narkosearzt rechnete ich sowieso mit meinem sicheren Tod. Natürlich überlebte ich. Doch meine künftige Belastbarkeit war noch lange in Frage gestellt. Inzwischen ist alles überstanden; ich kann wieder Sport machen und bin dankbar dafür. Dieses Glück wird mir manchmal bewusst, wenn ich schon länger nicht daran gedacht habe.

David Cain3 wurde als Kind auf langen Autofahrten ständig an seine Blase erinnert. Immer wieder wollte er anhalten – woraufhin seine Eltern ihn vertrösteten. Die letzte Toilettenpause lag in der Regel erst eine halbe Stunde zurück. Dass sie ihn daran erinnerten, half ihm natürlich nicht weiter. Er musste mal und konnte an nichts anderes denken. Seine ganze Welt drehte sich um dieses Bedürfnis. Deshalb nahm er sich vor, das nächste Mal dankbar dafür zu sein, wenn er nicht auf Toilette musste. Das war schließlich zu ungefähr 99 Prozent seines Lebens der Fall. Doch er schaffte es nicht. Selbst als ihm einmal auffiel, dass er gerade nicht auf Toilette musste, wollte er sich freuen, aber er wusste nicht wie. Er schreibt: „Dieses Dilemma sehe ich immer wieder, wenn Menschen sich vornehmen, dankbarer zu sein. Es ist schwierig: dankbar zu sein, wenn einem nichts fehlt. Man muss beinahe etwas verlieren, um dessen Wert zu erkennen.“

Einen Menschen vorübergehend verlieren

„Wir werden sehen, wie es Ihrem Vater geht, wenn er aufwacht“, sagte die Assistenzärztin der Uniklinik Leipzig zu uns. Infolge eines Herzinfarkts war er beim Joggen umgekippt und hatte fast 50 Minuten lang Kammerflimmern gehabt. Nun lag er vor uns im Bett und hing an ungefähr zehn Schläuchen. In einem davon leiteten die Ärzte eine Flüssigkeit durch seinen Körper, die seine Temperatur auf 33 Grad Celsius runterkühlte. So versetzt man jemanden in ein Wachkoma, damit sich das Gehirn erholen kann. Die Ärzte meines Vaters gingen von Hirnschäden aus und machten uns auf das Schlimmste gefasst. Aber wir hatten Glück – oder besser gesagt: viele glückliche Umstände kamen zusammen. Zufällig war er von Profis innerhalb kurzer Zeit gefunden und reanimiert worden. Die Rettungsärztin hatte zufällig nicht nach einer halben Stunde aufgegeben, sondern weitergemacht. (Inzwischen hat mein Vater alle Ersthelfer gefunden, siehe LVZ-Artikel.)

Nur deshalb weiß ich, wie es ist, jemanden vorübergehend zu verlieren und wiederzugewinnen. Nach der Wiedergeburt meines Vaters am 25. April 2016 gingen wir alle wie auf Wolken nach Hause. Wir würden nie wieder Probleme haben, denn alles schien banal gegen das, was wir erlebt hatten. Die Freude darüber hätte ich gern festgehalten. Aber ich gebe zu: das geht nicht.

Absichtlich gedanklich verlieren

Wir regen uns oft über andere Menschen auf. Aber wie wäre es wirklich, wenn sie nicht mehr da wären? Kaum jemand möchte dieses Szenario zu Ende denken. Doch Adam Fletcher betrachtet diese „negative Projektion“ als Strategie für mehr Gelassenheit gegenüber einer Person. Wenn man sich vorstellt, wie das Leben ohne diesen Menschen wäre, könne man über manche Macken leichter hinwegsehen.4

Genauso kann man sich vorstellen, wie das Leben ohne all die Dinge um uns herum wäre. David Cain überlegt vor dem Schlafengehen beispielsweise, wie er als Obdachloser auf der Straße unterwegs sein könnte – anstatt im warmen Bett zu liegen. Das lässt ihn dankbar sein für all das, was ihm gehört und ihn Tag für Tag umgibt.3

Auch wir sollten uns immer mal wieder an den unfassbaren Luxus erinnern, in dem wir leben. Dazu können wir diesen zeitweise ein wenig zurückschrauben und mal über den Tellerrand schauen. Zudem können wir absichtlich Geld verlieren, also etwas spenden, denn das macht uns und andere glücklich.

Oder wie wäre es, ein bisschen Zeit zu gewinnen? Dazu brauchen wir uns nur einen Moment lang vorzustellen, dass wir sie verlieren. Dass wir beispielsweise nur noch ein Jahr zu leben haben. Oder einen Monat. Unsere Lebenszeit betrachten wir in der Regel als selbstverständlich. Vielleicht können wir sie durch solche Gedankengänge langfristig mehr schätzen?

 

Möglicherweise haben die Leipziger/in meine Scheine neulich gesehen und trotzdem liegen gelassen. Sie wussten vielleicht, dass ich mich freuen und etwas zu erzählen haben würde.

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Quellen

  1. Eckart von Hirschhausen: Glück kommt selten allein
  2. ebd.
  3. David Cain: This will never happen again
  4. Adam Fletcher: Wir können auch anders

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