Wie man durch weniger Konsum dem Hamsterrad entkommt

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Mein Freund Marcus verdient sehr gut, aber er wird wahrscheinlich nie frei sein. Im Studium gründete Marcus sein erstes Unternehmen und steckte anfangs jeden Cent in die Firma. Er lebte von Bafög, dem Kindergeld seiner Eltern und einem Nebenjob beim Gebrauchtwagenhändler. Dort wusch er jede Woche Autos. Zum Leben blieb ihm nicht viel, oftmals ernährte er sich nur von Toastbrot mit Schinken und Käse. Das Unternehmen ging vor.

Die Anfangszeit war hart, doch sie sollte sich auszahlen. Marcus ist geschickt darin, Menschen von sich zu überzeugen. Er gewann einen Kunden nach dem anderen für die Firma, sodass sein Geschäftspartner und er sich bald ein regelmäßiges Gehalt auszahlen konnten. Je nachdem, wie gut das Geschäft lief, entnahm er zwischen 5.000 und 10.000 Euro im Monat. Die junge Familie – Marcus ist verheiratet und hat mittlerweile zwei Kinder – lebte davon sehr gut. Sie bezog eine 150 qm große Wohnung, kaufte ein Segelboot, teure Fernseher, Digitalkameras und Lederjacken von Armani. Jeden Tag gingen die vier auswärts essen. Morgens, mittags und abends. Das Auto ist finanziert, das iPad und das 6.000 Euro teure Bett auch.

Je mehr Geld Marcus verdiente, desto mehr gab er aus. Am Monatsanfang dachte er kaum über Konsumentscheidungen nach. Erst wenn sich der Kontostand drei Wochen später auf die Null zubewegte, lebte er etwas sparsamer. Doch bald wurde aus der schwarzen Null ein rotes Minus. Als am Ende des Geldes noch so viel Monat übrig war, rutschte Marcus regelmäßig in den Dispo. Bis letztes Jahr war es für ihn normal, bei der Bank mit 4.000 Euro in der Kreide zu stehen. Die monatlichen Zinskosten schätzt er auf 100 Euro. Marcus empfand diese Gebühren jedoch nie als Verlust. Seine Einstellung zum Geld ist pragmatisch: Es befindet sich nur im Umlauf und wird zu ihm zurückkehren.

Marcus ist ein tüchtiger Unternehmer, deshalb kam das Geld tatsächlich zu ihm zurück. Allerdings musste er ständig neue Kunden akquirieren, um seine Mitarbeiter zu bezahlen und seinen eigenen Lifestyle zu finanzieren. Der Druck war groß. Jeden Monat strampelte er sich ab, doch egal wie viel Geld er einnahm, am Monatsende war es wieder weg. In diesem Hamsterrad zu strampeln, war für Marcus zunehmend unbefriedigend. Mit seinem Geschäftspartner lag er nicht mehr auf einer Wellenlänge. Den Kunden verkaufte er stets die gleichen Leistungen, oft nicht jene, die er eigentlich verkaufen wollte. Doch der Geldfluss durfte nicht versiegen, denn Marcus hatte keine Rücklagen. Schlimmer noch, er hatte Schulden. Konsumschulden. Deshalb musste es immer weitergehen.

Was Marcus trieb: die Lifestyle-Inflation

Trotz Einnahmen von bis zu 10.000 Euro im Monat gelang es Marcus nicht, Rücklagen zu bilden. Seine Ausgaben passten sich stets seinen Einnahmen an. Dieses Phänomen nennt sich Lifestyle-Inflation und ist ein ungeschriebenes Gesetz der Konsumgesellschaft: Wer mehr Geld zur Verfügung hat, konsumiert mehr. Kaum jemand ist davor gefeit. Die Lifestyle-Inflation lässt sich am besten in Lebensphasen beobachten, in denen die Einkommen der Menschen sprunghaft ansteigen, zum Beispiel nach dem Studium. Im ersten richtigen Job haben sie plötzlich mehr Geld zur Verfügung und brauchen nicht lange, bis sie ihre Ausgaben anheben. Obwohl viele von ihnen später das Studium als die beste Zeit ihres Lebens bezeichnen werden, wollen sie nicht mehr wie Studenten leben. Sie mieten eine eigene Wohnung, kaufen neue Möbel, einen größeren Fernseher, ein sportliches Fahrrad, ein Auto, machen teure Urlaube und essen nicht mehr im Dönerbistro, sondern im Restaurant.

Viele dieser Ausgaben scheinen jetzt „notwendig“ zu sein. Diese jungen Menschen wissen nicht mehr, wie sie einmal mit so wenig Geld auskommen konnten, wie im Studium. Sie gewöhnen sich schnell an die neue Lebensweise und arbeiten praktisch nur noch dafür, diese zu finanzieren. Doch was eben noch Luxus war, ist sofort zur Normalität geworden. Jetzt wollen sie noch mehr, denn das Potential an Wünschen ist unendlich. Die Industrie vermittelt ihnen, dass sie weitere, neuere und hochwertigere Produkte brauchen. Ihr Umfeld besteht nicht mehr aus Studenten, die unter dem Existenzminimum leben, sondern aus Menschen, die Karriere machen und sich größere Autos und Eigentumswohnungen kaufen, Häuser bauen und in den Urlaub auf die Malediven fliegen. Sie sind der neue Maßstab.

Meine Erfahrung mit der Lifestyle-Inflation

Unmittelbar nach dem Studium hielt sich die Inflation bei mir noch in Grenzen. Ich verließ mein Elternhaus, um nach Leipzig zu ziehen. In meinem ersten Job betrug mein Gehalt lediglich 1.000 Euro brutto im Monat zuzüglich eines kleinen Bonus. Davon blieben mir etwa 850 Euro netto. In meiner Wohngemeinschaft zahlte ich weniger als 200 Euro für Miete, Strom und Internet. Das Fitnessstudio zog jeden Monat 25 Euro von mir ein. Dazu kam ich für eine Haftpflichtversicherung und einen Handyvertrag auf. Nach diesen Fixkosten blieben mir 600 Euro zum Leben. Damit kam ich gut zurecht.

Es dauerte nicht lange, bis mein Einkommen anstieg. Einmal im Quartal erhielt ich eine moderate Gehaltserhöhung. Dazu hatte ich mir ein nebenberufliches Gewerbe aufgebaut. Nach einem Jahr dürfte ich jeden Monat mehr als 3.000 Euro brutto verdient haben. Nach zwei Jahren war es noch deutlich mehr. Meine Ausgaben stiegen ebenfalls. Ich bezog eine eigene Wohnung und musste nun Miete, Strom, Internet und GEZ selbst bezahlen. Ich hatte mir ein Budget gesetzt und zog trotzdem in eine teurere Wohnung. Außerdem hatte ich nun eine Hausratversicherung, drei Zeitungsabos und ein iPhone mit Datentarif. Ich wechselte in ein besseres Fitnessstudio, für das ich nun 55 Euro im Monat zahlte. Ich ging häufiger in Restaurants essen, verbrachte viel Zeit in Cafés, kaufte DVDs, die ich mir nie ansah und Bücher, die ich nie las. Jedes Jahr machte ich mindestens eine große Fernreise. War ich einst mit 850 Euro ausgekommen, brauchte ich nun mindestens doppelt so viel. Später sollte es noch mehr werden.

Vor zwei Monaten begann ich, meine Ausgaben aufzuschreiben. Das hatte ich schon länger nicht mehr getan. Seitdem weiß ich, dass ich einschließlich meiner privaten Krankenversicherung etwa 2.000 Euro im Monat ausgebe. Eigentlich noch mehr, denn ich unterliege dem sogenannten Hawthorne-Effekt. Dieser besagt, dass sich ein Verhalten schon dadurch ändert, dass es beobachtet wird.1 Das heißt, seitdem ich meine Ausgaben aufschreibe, bin ich sparsamer geworden. Vermutlich hatte ich bis dahin etwa 2.300 Euro im Monat ausgegeben. Das ist zufällig ziemlich genau der Betrag, den ein durchschnittlicher Vollzeit arbeitender Single in Deutschland netto zur Verfügung hat.2 Bei einem durchschnittlichen Gehalt und meinem bisherigen Konsumverhalten würde folglich am Monatsende nichts übrig bleiben.

Doch auch wenn ich überrascht bin, wie viel Geld ich zum Leben „brauche“, so hat sich die Lifestyle-Inflation bei mir nicht vollständig entfalten können. In den letzten zehn Jahren stiegen meine Ausgaben nie so stark wie meine Einnahmen, denn im Grunde meines Herzens bin ich ein sparsamer Mensch. Zum Glück. Denn sonst ginge es mir wie Marcus, der stets von der Hand in den Mund lebte und seinem konsumgetriebenen Hamsterrad nicht entkam.

Mehr Konsum macht nicht glücklich …

Von Marcus’ Nettoeinkommen blieb nichts übrig, deshalb war er stets auf die nächste Auszahlung angewiesen und von seinen Kunden abhängig. Er konnte nicht selbst entscheiden, wofür er seine Lebenszeit und Lebensenergie aufwendet. Eine solche Lebensweise würde mich auch unglücklich machen.

Doch selbst, wenn wir nicht an einen Job gefesselt sind, sondern mit einem Haufen Geld überschüttet werden, macht es uns nicht zufriedener, dieses Geld auszugeben. Jasmin erzählte in ihrem letzten Artikel von zwei Lottogewinnerinnen, die nach dem vermeintlichen Segen Klamotten, Autos und Immobilien kauften, sich die Brüste vergrößern ließen und die Nächte durchfeierten. Glücklich machte sie das alles nicht. Beide sagten später, der Lottogewinn hätte beinahe ihr Leben zerstört. Wahlloser Konsum macht eben nicht glücklich.

… mehr Geld aber schon

Wie viel Geld wir besitzen, hat wenig damit zu tun, wie oft wir an einem gewöhnlichen Tag lächeln und wie zufrieden wir sind. Solange wir Geld nur für Konsum ausgeben, fühlen wir uns mit ihm nicht besser als ohne. Wir brauchen etwas, das nach dem Geld kommt. Für manche Menschen – mich eingeschlossen – ist das Unabhängigkeit. Der Blogger Peter Adeney sagt, jeder Dollar, den er nicht ausgibt, trage zu seinem Wohlbefinden bei. Mit Geld kauft er sich die Freiheit, sein Leben so zu gestalten, wie er es möchte, und die Freiheit von der Sorge, nicht genug Geld zu haben.3 Eine Sorge, die fast jeder kennen dürfte. Schließlich sind zwei der größten Ängste der Deutschen, dass die Renten unsicher werden und dass die Lebenshaltungskosten steigen.4 Ein gutes Sicherheitspolster und eine sparsame Lebensweise können diese Ängste eindämmen.

„Vor allem aber verschafft Geld Unabhängigkeit, für mich neben der Gesundheit das größte Privileg.“ – André Kostolany5

Unabhängigkeit war auch der ursprüngliche Antrieb Warren Buffetts, nach Bill Gates der zweitreichste Mensch der Welt6: „Geld konnte mich unabhängig machen. Dann konnte ich mit meinem Leben tun und lassen, was ich wollte. Und das Größte, was ich tun wollte, war nur für mich zu arbeiten. Ich wollte nicht von anderen Leuten herumkommandiert werden. Die Idee, jeden Tag das zu tun, was ich wollte, war sehr wichtig für mich.“7 Sein Geschäftspartner Charles Munger spricht von einer ähnlichen Motivation: „Ich hatte eine beachtliche Leidenschaft dafür, reich zu werden. Nicht, weil ich Ferraris wollte – ich wollte die Unabhängigkeit. Ich wollte sie unbedingt.“8 Beide haben heute mehr Geld, als sie für ihre Unabhängigkeit brauchen. Aber beide sind auch dafür bekannt, unter ihren Verhältnissen zu leben.

Unabhängigkeit ist für manche Menschen ein wichtiger Antrieb, ihr Geld beisammenzuhalten. Viele von ihnen organisieren sich in Communities und brennen hauptsächlich für ein Thema: finanzielle Unabhängigkeit. Sie reduzieren ihren Konsum, um freier über ihre eigene Lebenszeit bestimmen zu können, um Dinge zu machen, die ihnen Freude bereiten und um öfter Nein zu sagen. Ihr höchstes Gut ist Zeit. Von dieser Ressource haben wir alle gleich viel. Niemand kann sich mehr von ihr kaufen. Mit Geld können wir allerdings entscheiden, wie wir unsere Zeit verbringen.

Die Sparquote als Gradmesser für Unabhängigkeit

Häufig assoziieren wir Reichtum mit einem sehr hohen Gehalt. Dabei ist das in vielen Fällen zu kurz gedacht. Manche Menschen verdienen zwar viel Geld, aber geben noch mehr aus. Andere wiederum verdienen weniger und kommen mit noch weniger aus. Mein Freund Marcus entnahm monatlich bis zu 10.000 Euro aus seiner Firma und wendete diese für seinen Konsum auf. Er gab sogar mehr aus, als er einnahm, und machte Konsumschulden. Ein anderer verdient vielleicht nur 2.000 Euro netto, kommt aber mit 1.500 Euro im Monat aus. Derjenige ist freier, als Marcus es je war!

Entscheidend ist nicht allein das Gehalt, sondern welchen Anteil man davon behält: die Sparquote. Sie wird von zwei Variablen beeinflusst: den Einnahmen und den Ausgaben. Beide sind ähnlich wichtig, allerdings möchte ich die Bedeutung der Ausgaben hervorheben, denn ein gesparter Euro ist wertvoller als ein eingenommener Euro. Um einen zusätzlichen Euro in der Tasche zu haben, muss ich fast zwei Euro verdienen, wenn wir Steuern und Sozialabgaben berücksichtigen. Der gesparte Euro ist hingegen schon versteuert und genau einen Euro wert.

Wie viel sollte man sparen?

Das Buch „Der reichste Mann von Babylon“ ist ein Klassiker. Es lehrt den Menschen seit den 1920er Jahren, wie man mit Geld umgeht. Eine der wichtigsten Erkenntnisse dieses Buchs lautet: Bezahle dich selbst zuerst. Demnach solle man am Monatsanfang mindestens 10 Prozent seiner Bruttoeinnahmen zurücklegen und dieses Geld keinesfalls ausgeben. Es ist nur für einen selbst. Die anderen 90 Prozent sind für alle anderen: den Staat, den Vermieter, den Händler, den Lebensmittelproduzenten etc.

Wir Deutschen sparen allerdings nicht einmal diese 10 Prozent. Zwar lag die Sparquote in den letzten Jahren bei etwa 9,7 Prozent – allerdings vom Nettoeinkommen. Aufs Brutto bezogen, dürfte sich die Sparquote eher bei 5 Prozent bewegen.9 Bleiben wir aber beim Nettoeinkommen, da sich das besser rechnet. Wenn wir zehn Prozent unseres versteuerten Einkommens sparen, müssen wir zehn Jahre arbeiten (und sparen), um anschließend ein Jahr frei leben zu können. Hmm. Das klingt nicht nach Unabhängigkeit.

Ist da vielleicht noch mehr drin? Bei einer Sparquote von 20 Prozent müssten wir nur fünf Jahre arbeiten, um eines frei zu sein. Sparen wir sogar 50 Prozent unseres Nettoeinkommens, können wir jedes zweite Jahr ohne Arbeit auskommen. Je höher die Sparquote ist, desto länger können wir über unsere eigene Lebenszeit bestimmen. Aber ist das überhaupt möglich? Kann man so viel sparen?

Ja, kann man. Aber wer 50 Prozent seines Einkommens spart, der spare nicht einfach nur des Geldes wegen, so der Blogger Albert Warnecke. Stattdessen treffe derjenige eine Entscheidung darüber, wie er leben will.10 Mit einer so hohen Sparquote entscheidet man sich bewusst dafür, mit weniger Konsum zufrieden zu sein, sich nicht mit seinen Nachbarn zu vergleichen und nicht jedes Problem mit Geld zu lösen. Stattdessen strebt man nach Freiheit und Unabhängigkeit. Einer, der das macht, ist Oliver Noelting.

Sparsam leben, um frei zu sein

Oliver ist 28 Jahre alt und lebt derzeit in einer kleinen Stadt in England. Dort arbeitet er als Softwareentwickler in einem Industrieunternehmen. Oliver ist einer dieser Menschen, die das Leben als Student in vollen Zügen genossen haben. Mit dem Arbeitsleben wollte er sich nicht so recht anfreunden, deshalb schrieb er sich nach dem Bachelor gleich für den Master ein. Doch irgendwann hatte er auch diesen Abschluss in der Tasche. Damals sorgte er sich vor der Zeit nach dem Studium. Er hatte nichts, worauf er sich wirklich freuen konnte. Er selbst sagt, es sei eine Sinnkrise gewesen.

Durch einen Freund entdeckte er vor dreieinhalb Jahren den amerikanischen Blog Mr. Money Mustache, der von einem Leben in finanzieller Freiheit berichtet. Nachdem Oliver den ersten Text gelesen hatte, konnte er nicht mehr aufhören. Er klickte sich von einem Artikel zum nächsten, bis er alle Inhalte aufgesogen hatte. Anschließend stieß er auf weitere Blogs und las mehrere Bücher. Er hatte ein Ziel gefunden, auf das er sich freuen konnte: finanzielle Unabhängigkeit. Er nahm sich vor, zukünftig besonders sparsam zu leben und die Überschüsse zu investieren.

Olivers vielleicht größtes Glück war, dass er sich dieses Ziel steckte, als er noch wie ein Student lebte. Damals kam er mit 600 bis 700 Euro im Monat aus. Als er seinen ersten Job antrat, wollte er die Lifestyle-Inflation bewusst vermeiden und seine sparsame Lebensweise erhalten. Er dachte sich, was als Student geht, müsse auch im Arbeitsleben funktionieren. Deshalb lebt Oliver bis heute von sehr wenig Geld. Im letzten Jahr betrugen seine Ausgaben kaum mehr als 800 Euro im Monat – einschließlich aller festen und variablen Kosten. Das gelingt ihm, weil er alles ein bisschen kleiner angeht als andere.

Zusammen mit seiner Freundin lebt er in einer Wohngemeinschaft, allerdings keiner schäbigen Studenten-WG, sondern einem gemeinsam mit anderen genutzten Haus, das auf Fotos sehr luxuriös wirkt. Sein Anteil an der monatlichen Warmmiete beträgt 245 Euro. Er fährt nicht Auto, sondern Fahrrad. Anstatt eines iPhones hat er ein altes Handy. Für den privaten Gebrauch nutzt er kein Macbook, sondern kaufte sich einen leistungsfähigen gebrauchten Laptop für 300 Euro. Er kocht meistens selbst, anstatt auswärts essen zu gehen. Seine Hobbys sind Skateboarden, Gitarre spielen, Kochen, Bloggen und Programmieren – alles kostenlos. Damit das konsequente Sparen klappt, führt Oliver ein Haushaltsbuch, denn seine Kosten müsse man aufschreiben, um sie wirklich im Blick zu behalten und sich nicht selbst zu betrügen. Eine Einschätzung, die ich teile.

Als angestellter Softwareprogrammierer hat Oliver etwa 2.100 Euro netto zu Verfügung. Hinzu kommen Beiträge für eine betriebliche Altersvorsorge sowie Einnahmen aus einem kleinen Nebengewerbe. Stellt man Olivers Einnahmen und Ausgaben gegenüber, kommt man für das Jahr 2016 auf eine Sparquote von ziemlich genau 70 Prozent!11 Niemand spart so rigoros, nur um Geld anzuhäufen. Auch für Oliver ist es eine Lifestyle-Entscheidung. Sein Ziel ist nicht, viel Geld zu haben und davon luxuriös zu leben. Für ihn ist Geld nur ein Mittel für einen höheren Zweck. Auf meine Frage, was ihn zu dieser Sparsamkeit antreibt, nannte er drei Gründe:

  1. Er möchte finanziell frei sein. Seine Arbeit macht ihm zwar Spaß, aber die Aussicht, sein Leben lang täglich acht Stunden für jemand anderen zu arbeiten, ist für ihn nicht motivierend. Er möchte lieber selbst entscheiden, was er mit seiner Zeit anfängt. Deshalb hat er sich vorgenommen, noch vor seinem 40. Geburtstag in Rente zu gehen.
  2. Mit so wenig Geld auszukommen, ist für ihn eine Herausforderung, die ihm Spaß bereitet. Er macht daraus ein Spiel, bei dem er neue Fähigkeiten lernt – Kochen, Gärtnern, Handwerken –, um mit weniger Geld auszukommen. Dass er seine Erfahrungen in einem Blog aufschreibt, spornt ihn zusätzlich an, besonders konsequent zu sparen.
  3. Er möchte ökologisch verantwortungsvoller leben, als es die meisten Menschen heute tun. Das heißt, er möchte wenige Ressourcen verbrauchen, nicht ständig neue Dinge kaufen, die bald weggeschmissen werden, und am liebsten regional hergestellte Produkte verzehren.

In seinem persönlichen Umfeld redet er nicht oft über seine Lebensweise. Nicht jeder versteht, warum Oliver so sparsam lebt. Einige Menschen würden seine Entscheidungen auf sich selbst beziehen, sagt er. Sie würden sich dadurch angegriffen fühlen und schnell Argumente finden, warum sie nicht so leben könnten. Er kann sie mittlerweile im Schlaf aufsagen:

  • „Mit einer Partnerin funktioniert das nicht.“
  • „Mit Kindern funktioniert das nicht.“
  • „Die Inflation frisst die Ersparnisse auf.“
  • „So zu leben kann man nicht lange durchhalten.“
  • „Ich lebe lieber heute, als für morgen zu sparen.“

Auf jeden dieser Einwände findet Oliver Antworten, die er auf seiner Website Frugalisten.de ausführlich erklärt. Er achtet allerdings darauf, den Lesern nicht vorzuschreiben, wie sie leben sollten, sondern nur von sich zu erzählen. Diese persönliche Schreibweise macht den Blog für mich so lesenswert.

Es lohnt sich, früh anzufangen

Vermögen werden in den 20ern aufgebaut, meint der Finanzwesir Albert Warnecke. In seinem Blog schreibt er: „Wer bis 40 seine Siebensachen nicht zusammen hat, braucht nicht mehr von der finanziellen Freiheit zu träumen. Der Zug ist dann abgefahren.“12 Die Gründe dafür sind vielfältig:

Zum einen schlägt die Lifestyle-Inflation in jungen Jahren noch nicht so stark zu. Man hatte weder die Zeit, noch das notwendige Einkommen, um sich einen riesigen Kostenapparat aufzubauen. Mit steigenden Verpflichtungen wird es immer schwerer, Geld zurückzulegen. Spätestens wenn man eine Familie gründet, verschieben sich die Prioritäten. Dieser Effekt ist so groß, dass sogar Warren Buffett ihn erwähnt. Über seinen Geschäftspartner Charles Munger, der zwar auch sehr reich geworden ist, aber viel später begann, Geld anzulegen, sagt Buffett: „Charlie hatte schon früh viele Kinder. Das hinderte ihn daran, unabhängig zu werden. Früh anzufangen, ohne Verpflichtungen, ist ein großer Vorteil.“13

Mindestens genauso wichtig ist der Faktor Zeit. Jemand, der im Alter von 25 Jahren beginnt, jeden Monat 400 Euro zurückzulegen – 20 Prozent von 2.000 Euro Nettoeinkommen – hat nach 10 Jahren 48.000 Euro mehr auf dem Konto als mein Freund Marcus. Der konnte zwar deutlich mehr Geld verdienen, aber keine Rücklagen bilden. Wer erst mit 35 oder 40 Jahren beginnt zu sparen, kann den Rückstand bis zur Rente nicht mehr aufholen. Dafür sorgt auch der Zinseszinseffekt. Legt der sparsame 25-Jährige seine 400 Euro am Aktienmarkt an, verfügt er nach 10 Jahren schon über inflationsbereinigte 65.324 Euro14 Nach 20 Jahren hat er bei einer gleichbleibenden Sparrate bereits 182.309 Euro angespart und seine wahre Macht entfaltet der Zinseszins erst danach. Dem Spätstarter fehlt die Zeit, das jemals aufzuholen.

Es spricht alles dafür, möglichst früh Rücklagen zu bilden. Trotzdem schieben viele junge Menschen dieses Thema vor sich her. Ein Viertel der 20- bis 39-Jährigen legt überhaupt nichts zurück.15 Von Altersvorsorge und Rentenlücke wollen sie nichts wissen. Von finanzieller Freiheit haben sie noch nie gehört. Ich kenne einige Menschen im Alter von 30 bis 40 Jahren, die zwar gut verdienen, aber kaum mehr als ein oder zwei Monate ohne Einkommen überbrücken können. Sie verpassen nicht nur die wichtigste Zeit, um fürs Alter vorzusorgen, sondern fesseln sich unnötig an ihre Jobs. Manche von ihnen sind selbständig, wie mein Freund Marcus. Für sie wäre es umso wichtiger, rechtzeitig vorzusorgen, da sie nicht in die Rentenkasse einzahlen.

Wie viel braucht man, um finanziell unabhängig zu sein?

Unter finanzieller Freiheit versteht jeder etwas anderes. Für die einen bedeutet es, im Rentenalter noch gut leben zu können. Sie wollen vor allem die Rentenlücke schließen, also die Differenz zwischen dem letzten Nettoeinkommen und der Rentenzahlung. Für die Rente selbst sparen sie ohnehin schon an, indem sie in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung verzinst sich das Geld immerhin mit einer Rendite von drei Prozent.16 Das ist überraschend gut, aber es besteht eine große Unsicherheit darüber, ob dieses Niveau noch viele Jahrzehnte gehalten werden kann. Auch diese Unsicherheit müsste man mit zusätzlicher privater Vorsorge absichern.

Selbständige müssen anders kalkulieren. Da sie für gewöhnlich nicht in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, sollten sie schon sehr zeitig beginnen, Geld zurückzulegen. Ein 30-Jähriger Selbständiger ohne Rentenansprüche braucht jetzt schon eine Sparquote von 25 Prozent, um sich mit Mitte 60 zur Ruhe setzen zu können. Ein 40-Jähriger, der noch nichts zurückgelegt hat, muss 40 Prozent seines Nettoeinkommens sparen. Die Ersparnisse müssen sie rentabel am Aktienmarkt anlegen – anderenfalls müssten sie noch deutlich mehr sparen. Ich nehme an, dass die meisten Selbständigen keine so hohe Sparquote haben. Vermutlich werden sie diese auch nie erreichen, da die Kosten durch Familie und steigende Ansprüche noch zunehmen werden. Diese Menschen müssen sich auf ein karges Leben im Alter einstellen oder sehr lange arbeiten.

Das Königsziel der sogenannten FIRE-Community (Financial Independence and Retiring Early) ist jedoch, sich vorzeitig zur Ruhe zu setzen. Kaum jemand von ihnen will bis zum 65. Lebensjahr arbeiten. Den meisten Menschen dürfte dieser Gedanke einerseits gefallen, andererseits aber unvorstellbar erscheinen. Für Oliver Noelting ist er realistisch. Er hat sich vorgenommen, noch vor seinem 40. Geburtstag in Rente zu gehen. Dieses Ziel kommuniziert er öffentlich. Insgeheim geht er allerdings davon aus, dass er es früher erreichen wird. Wie kann das sein? Auf welcher Grundlage berechnet er sein Ziel?

Die 4%-Regel

Als ich begann, mich mit finanzieller Unabhängigkeit zu beschäftigen, stieß ich bald auf die 4%-Regel. Sie besagt: Wenn die jährlichen Ausgaben nicht mehr als 4 Prozent der Ersparnisse betragen, gilt man als finanziell unabhängig. Mit anderen Worten: Man muss das 25-fache seiner jährlichen Lebenshaltungskosten ansparen, um nie wieder arbeiten zu müssen.

Ein Beispiel: Angenommen, ich benötige 20.000 Euro pro Jahr, um meine Kosten zu decken, dann bräuchte ich Ersparnisse von 500.000 Euro. Von diesen entnehme ich jährlich 4 Prozent (20.000 Euro) für meinen Konsumbedarf. Die Regel erlaubt einen Inflationsausgleich, sodass ich jedes Jahr etwas mehr entnehmen kann. Meine Ausgaben dürfen jedoch auf lange Sicht nicht stärker als die Inflation steigen.

Allerdings darf ich die 500.000 Euro nicht aufs Girokonto legen, denn dann wären sie unter Berücksichtigung der Inflation und einer jährlichen Entnahme von 4 Prozent nach etwa 20 Jahren aufgezehrt. Stattdessen setzt die Regel voraus, dass das Geld am Aktien- und Anleihenmarkt17 investiert wird. In diesem Fall wird eine Entnahme von jährlich 4 Prozent als Safe Withdrawal Rate bezeichnet. Das heißt, man läuft nicht Gefahr, das Ersparte aufzuzehren.

Die 4%-Regel basiert auf der sogenannten Trinity-Studie, die 1998 von drei Wissenschaftlern der Trinity University in Texas veröffentlicht wurde.18 Die Studie untersuchte die Erfolgsraten von Wertpapierportfolios19 in den USA über lange Zeiträume. Ein Portfolio gilt als erfolgreich, wenn es den Inhaber trotz einer regelmäßigen Entnahme überlebt. Die Wissenschaftler analysierten verschiedene Zusammensetzungen aus Aktien und Anleihen. Als Basis für den Aktienmarkt wurde der S&P 500 Index herangezogen, der die 500 größten amerikanischen börsennotierten Unternehmen enthält. Die Basis für den Anleihenmarkt stellen amerikanische Unternehmensanleihen mit sehr gutem Rating.

Die Ergebnisse der Studie lassen sich am besten in Tabellenform lesen20, deshalb vereinfache ich hier stark: Jedes Portfolio, das zu 75 Prozent aus Aktien und 25 Prozent aus Anleihen bestand, aus dem jährlich höchstens 4 Prozent (inflationsbereinigt) der Anlagesumme entnommen wurden, war über Zeiträume von 30 Jahren erfolgreich – das heißt, es wurde nicht aufgezehrt. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Portfolio 1929 aufgesetzt und bis 1959 beobachtet wurde oder ob der Beobachtungszeitraum 1960 bis 1990 oder 1979 bis 2009 war. In jedem 30-Jahreszeitraum war ein Portfolio aus Aktien und Anleihen mit einer 4-Prozent-Entnahmerate erfolgreich. Nicht nur, dass die Portfolios nicht aufgezehrt wurden, sie gewannen sogar an Wert. Der Mittelwert eines $1,000-Portfolios betrug nach 30 Jahren $5,968 – es hatte sich also versechsfacht.

Das ist die 4%-Regel. Deshalb versuchen Menschen wie Oliver, die finanziell unabhängig werden wollen, das 25-fache ihrer jährlichen Ausgaben anzusparen. Ich finde diese Regel faszinierend und einleuchtend, allerdings ist sie aufgrund einiger Einschränkungen mit Vorsicht zu genießen:

  • Die Studie berücksichtigt nur historische Portfolios. Es gibt keine Garantie, dass der Aktien- und Anleihenmarkt sich auch in Zukunft genauso stark rentieren wird.
  • Die Studie berücksichtigt keine Steuerzahlungen. In Deutschland wird allerdings Abgeltungssteuer auf Dividenden und Kurszuwächse fällig. Wenn man 4 Prozent zum Leben braucht, muss man seinem Portfolio folglich 4 Prozent zuzüglich der Steuern entnehmen.
  • Die Studie betrachtet nur Zeiträume von höchstens 30 Jahren. Wer aber mit 40 in Rente gehen will, muss mit längeren Zeiträumen planen. Für diese gibt es keine Studien.

Es ist also keineswegs sicher, dass Ersparnisse bei einer jährlichen Entnahme von 4 Prozent nicht aufgezehrt werden. Deshalb sollte man etwas konservativer planen. Oliver hält den oben genannten Einschränkungen entgegen, dass man in schlechten Zeiten auch seine Ausgaben vorübergehend reduzieren könne. Schließlich ist die 4%-Regel nur deshalb mit einem Risiko verbunden, weil man während eines Börsencrashs zu viel Substanz aus seinem Portfolio aufzehren könnte. Hat man das Pech, gleich am Anfang der Rentenzeit einen großen Crash zu erleben, kommt man mit einer jährlichen Entnahme von 4 Prozent eventuell nicht durch. In dieser Phase wäre es sinnvoll, die Ausgaben zu reduzieren. Kommt der Crash erst viel später, ist er nicht mehr so gefährlich.

Ein Argument sollte jedoch alle Kritiker verstummen lassen: Nur weil jemand mit 40 in Rente gehen möchte, heißt das nicht, dass derjenige für den Rest seines Lebens nie wieder auch nur einen Euro verdienen wird. Das ist sogar äußerst unwahrscheinlich. Der Mensch braucht eine Aufgabe und fast alle finanziell unabhängigen Menschen, die mir bei meiner Recherche begegnet sind, gehen weiterhin irgendeiner Tätigkeit nach, mit der sie auch etwas verdienen. Allerdings arbeiten sie nur an Projekten, die ihnen Spaß machen. Um es mit den Worten des Bloggers Peter Adeney zu sagen: „Arbeit ist besser, wenn du das Geld nicht brauchst.“21

Auch wenn ich sie mit dem nötigen kritischen Abstand betrachte, übt die 4%-Regel eine große Faszination auf mich aus, weil sie erstmals eine Zahl definiert, mit der ich die finanzielle Freiheit erreichen kann. Noch interessanter ist, dass ich anhand meiner Sparquote ausrechnen kann, wann ich das Ziel erreicht haben werde. Findige Leute entwickelten dafür einen Rentenrechner, den Oliver für deutsche Nutzer adaptiert hat.

Der Rechner setzt voraus, dass die Ausgaben für immer konstant bleiben, dass man das Geld sehr rentabel anlegt (5 Prozent Rendite nach Inflation und Steuern) und dass man während der Rentenzeit nie mehr als 4 Prozent seines Anfangsportfolios entnimmt. Daraus ergeben sich folgende Szenarien, wenn man bislang keinerlei Vermögen angespart hat:

  • 10% Sparquote: 51,4 Jahre bis zur finanziellen Unabhängigkeit
  • 20% Sparquote: 36,7 Jahre bis zur finanziellen Unabhängigkeit
  • 30% Sparquote: 28 Jahre bis zur finanziellen Unabhängigkeit
  • 40% Sparquote: 21,6 Jahre bis zur finanziellen Unabhängigkeit
  • 50% Sparquote: 16,6 Jahre bis zur finanziellen Unabhängigkeit
  • 60% Sparquote: 12,4 Jahre bis zur finanziellen Unabhängigkeit
  • 70% Sparquote: 8,8 Jahre bis zur finanziellen Unabhängigkeit

Kein Wunder, dass Oliver davon ausgeht, schon vor seinem 40. Geburtstag unabhängig zu werden, denn bei seiner aktuellen Sparquote braucht er dafür nur 8,8 Jahre. Da er bereits Ersparnisse angesammelt hat, reduziert sich die Zeit sogar noch. Es kann also erstaunlich schnell gehen. Die Rechnung zeigt aber auch: mit einer Sparquote von 10 Prozent kommt man nicht weit. Greifbar werden die Zeiträume erst ab Sparquoten von 30 bis 40 Prozent. Das klingt viel, doch gerade für Selbständige mittleren Alters, die noch nichts zurückgelegt haben, sind diese Quoten Pflicht.

Richtig investieren für die Unabhängigkeit

Weniger auszugeben als man einnimmt, ist nur ein Teil des Weges in die finanzielle Unabhängigkeit. Das gesparte Geld soll anschließend weiterarbeiten, deshalb müssen Überschüsse kontinuierlich investiert werden. Wir Deutsche gelten im internationalen Vergleich zwar als Sparfüchse, aber als keine besonders klugen. Zumindest sind wir nicht sonderlich mutig. Am liebsten legen wir unser Geld aufs Konto. Je nach Erhebung findet man unterschiedliche Werte, doch sie alle bilden in etwa ab, was wir mit unseren Ersparnissen machen. Ich habe mir mal eine herausgegriffen:22

Sparbuch, Tagesgeld, Girokonto, Bausparvertrag, Kapitallebensversicherungen und Immobilien – das ist alles ziemlich deutsch. Wir scheuen das Risiko, erhalten dafür aber nur eine geringe Rendite. „Die Deutschen sparen sich um ihr Vermögen“, titelte WELT Online im vergangenen Jahr.23 Demnach rentierte sich unser Sparvermögen in den letzten Jahren mit etwa 2,3 Prozent, während die Holländer mit ihrem Ersparten eine Rendite von 4,7 Prozent erwirtschafteten und die Finnen sogar 6,9 Prozent.

Insbesondere in der aktuellen Niedrigzinsphase ist es schädlich, sein Geld nur aufs Fest- oder Tagesgeldkonto zu legen. Meine Bank zahlt 0,2 Prozent Zinsen für Tagesgeld. Bei einer Inflation von derzeit etwa 2 Prozent verliere ich jedes Jahr 1,8 Prozent meines Kapitals. Einen Teil dieses Geldes habe ich schon vor zehn Jahren verdient, da ich seit 2007 spare. Geld, das damals noch 1.000 Euro wert war, ist jetzt nur noch 874 Euro wert.24 Geld, das ich heute anspare und aufs Girokonto lege, ist in 35 Jahren – wenn ich Rentner bin – nur noch die Hälfte wert. Über lange Zeiträume arbeitet die Inflation gegen mich und mit den sichersten Geldanlagen kann ich zurzeit nichts dagegen tun. Finanziell unabhängig werde ich so nicht.

Mit Immobilien übrigens auch nicht. Viele Menschen „investieren“ ihr Geld in eine Wohnung oder ein Haus, die sie selbst nutzen. Doch die Rendite von Wohneigentum ist verschwindend gering. Wer ein Haus kauft, sollte es aus Liebhaberei tun, aber nicht als Geldanlage. Der einzige Vorteil einer eigenen Immobilie ist, dass die Käufer über Jahrzehnte zum Sparen gezwungen werden. Bis der Kredit abbezahlt ist, haben sie wenig Spielraum, ihre Lebenshaltungskosten zu erhöhen. Disziplinierte Sparer hingegen fahren mit einer gemieteten Immobilie besser. Zur weiteren Lektüre empfehle ich Holger Grethes Artikel über acht Immobilienirrtümer sowie das Buch „Kaufen oder mieten?“ von Gerd Kommer.

Immerhin 20 Prozent der deutschen Sparer kaufen Investmentfonds. Diese sind deutlich riskanter als Tagesgeld, rentieren sich dafür aber auch besser. Ich war einer dieser Sparer. Im Jahr 2010 schaffte ich mein Geld zu einem Finanzberater und investierte erstmals in Aktien-, Anleihen- und Immobilienfonds. Später kam ich ein- bis zweimal im Jahr zum Depotgespräch in die Bank. Jedes Mal erklärte mir mein Berater erneut, welche Fonds ich schon im Depot hatte. Da meine Finanzen mich damals wenig interessierten, war diese regelmäßige Aufklärung tatsächlich notwendig. Anschließend empfahl er mir neue Fonds. Nach einigen Jahren war ich erstaunt, dass er immer wieder etwas Neues aus der Schublade zog. Bei diesen Terminen kaufte ich manchmal weitere Fonds, manchmal verkaufte ich bestehende Anlagen und manchmal machte ich gar nichts.

Allerdings wusste ich nie so genau, wie rentabel mein Portfolio war. Diese Zahl entdeckte ich erst vor ein paar Monaten. Demnach liegt die Rendite meines Portfolios zwischen April 2010 und Mai 2017 bei etwa 13 Prozent. Diese Zahl allein sagt jedoch nichts aus, bis man sie mit etwas anderem vergleicht. Zum Beispiel mit dem Deutschen Aktienindex (DAX), der im gleichen Zeitraum um mehr als 100 Prozent zugelegt hat.25 Fairerweise muss ich sagen, dass mein Portfolio nicht nur aus Aktienfonds besteht, daher hinkt der Vergleich. Eine Mischung aus Aktien-, Anleihen- und Immobilienfonds ist weniger riskant, dafür ist mit einer geringeren Rendite zu rechnen. Dennoch finde ich die Differenz frappierend – dafür, dass mich ein Experte beriet.

„Die Wall Street ist der einzige Ort, an den Menschen mit einem Rolls-Royce vorfahren, um sich von Leuten beraten zu lassen, die mit der U-Bahn kommen.“ – Warren Buffett26

Seit drei Monaten beschäftige ich mich fast täglich mit diesem Thema. Schon nach wenigen Tagen wurde mir klar, dass ich die Sache selbst in die Hand nehmen muss. Große Teile der Finanzindustrie leben von Menschen, die sich dem Thema Geld verweigern und es in fremde Hände geben. Im Nachhinein bin ich mir des Fehlers bewusst, mich nicht um meine Finanzen gekümmert zu haben, aber ich bereue ihn nicht, denn damals wusste ich es nicht besser.

Ein Problem ist, dass Finanzberater nicht beraten. Sie sind eigentlich Verkäufer, die nicht für mich arbeiten, sondern für sich selbst und ihre Arbeitgeber. Zwischen beiden Seiten gibt es Interessenskonflikte, bei denen ich nur verlieren kann. Ich will ein Anlageprodukt, das nur geringe Gebühren verursacht – der Verkäufer verdient aber an teuren Produkten. Deshalb bietet er die für mich besten Produkte nicht an. Ich möchte eine Anlage möglichst lange halten, um keine weiteren Transaktionskosten zu verursachen – der Verkäufer hingegen verdient am meisten Geld, wenn ich immer wieder verkaufe und etwas Neues kaufe. Da ich das Spiel sieben Jahre lang mitspielte, zahlte ich mehrere Tausend Euro Gebühren und hielt Fonds, die weit schlechtere Renditen abwarfen als der Markt als Ganzes.

Hätte ich mich nicht selbst informiert, wäre ich der Finanzindustrie nie entkommen. Nur wenige Tage bevor mir ein Licht aufging, hatte ich sogar noch teure Fonds nachgekauft. Ich glaube jedoch, dass es vor sieben Jahren noch nicht die Fülle an Informationen gab, die es heute gibt. Als ich mich selbst kümmerte, las ich zunächst den Guide über Passives Investieren sowie den ETF-Guide bei zendepot. Später verschlang ich die 30-teilige Aktienserie von Jim Collins (englisch). Für speziellere Fragen landete ich beim Finanzwesir Albert Warnecke. Anschließend rundete ich mein Wissen mit fundierten Fachbüchern ab. Diese drei kann ich empfehlen:

Heute denke ich, dass finanzielle Bildung das Fundament für finanzielle Unabhängigkeit darstellt. Aus meiner Sicht sollte man nur in etwas investieren, das man versteht. Versteht man nur Tages- und Festgeld, kann man eben nur so sein Geld anlegen. Erst wenn man sich darüber hinaus ausgiebig mit seinen Finanzen und seiner Altersvorsorge beschäftigt, kann man interessante Renditen einfahren, ohne dabei schlaflose Nächte zu durchleben. Je mehr ich übers Investieren lernte, desto ruhiger wurde ich dabei. Ich lernte, wie Börsen funktionieren, was Anlageklassen sind, was der Unterschied zwischen aktiven und passiven Fonds ist, wie Risiko zu verstehen ist, dass Gebühren entscheidend sind und welche Macht der Zinseszinseffekt hat. Mein Ziel ist, meine Geldentscheidungen allein treffen zu können, ohne die Empfehlungen anderer. Ich kann nur ruhig schlafen, wenn ich weiß, warum ich etwas gemacht habe.

Sich dieses Wissen anzueignen ist anfangs sehr aufwendig. Ich habe sechs Bücher und unzählige Blogartikel gelesen sowie etliche Stunden Podcasts gehört. Allerdings ist dieser Aufwand endlich. Man muss die Prinzipien verstehen, mehr aber auch nicht. Es ist nicht notwendig, Finanznachrichten zu lesen oder die Börse zu verfolgen. Im Gegenteil: Das ist sogar schädlich. Warren Buffett spricht von der Börse als „Mr. Market“. Dieser ist starken Stimmungsschwankungen unterworfen. Er lässt sich von jeder noch so kleinen Nachricht treiben. Mal ist er manisch, mal depressiv. Es sei sinnlos sich von Mr. Markets Stimmungen mitreißen zu lassen. Deswegen lässt man den Markt besser sein Ding machen und investiert nur passiv.

Passiv investieren

Die meisten Menschen, die versuchen finanziell unabhängig zu werden, investieren passiv. Das bedeutet, sie kaufen keine einzelnen Aktien, die sie aktiv auswählen müssten. Sie versuchen auch nicht den richtigen Zeitpunkt zu finden, um ihre Wertpapiere zu kaufen oder zu verkaufen. Stattdessen investieren sie in ganze Märkte, indem sie Indexfonds27 kaufen. Ein Indexfonds spiegelt den Verlauf eines Index wider – zum Beispiel den Verlauf des DAX. Seit der Deutsche Aktienindex im Jahr 1987 ins Leben gerufen wurde, durchlebte er viele Höhen und Tiefen. Doch auf lange Sicht ist seine Rendite zuverlässig positiv. In den ersten 25 Jahren rentierte sich der DAX mit 8,5 Prozent pro Jahr (inflationsbereinigt: 6,38 Prozent)28 Mittlerweile ist der DAX schon wieder fünf Jahre älter. In dieser Zeit sind die Kurse erneut deutlich gestiegen.

Viele Passivanleger investieren aber nicht nur in den DAX, da dieser die Aktien von lediglich 30 Unternehmen enthält. Sie legen ihr Geld lieber in größeren Indizes an, wie den S&P 500 mit den 500 größten börsennotierten Unternehmen der USA. Noch besser ist es allerdings, einen Welt-Index zu kaufen, um noch breiter diversifiziert zu sein. Der MSCI World beinhaltet mehr als 1.600 der größten Unternehmen aller Industrienationen. So viele Aktien könnte man einzeln gar nicht halten, ohne von den Transaktionskosten erdrückt zu werden. Indexfonds erlauben also, sehr breit diversifiziert in ganze Märkte zu investieren. Man könnte diese Fonds jederzeit kaufen und verkaufen, doch passive Anleger handeln nicht. Sie kaufen Fondsanteile zu beliebigen Zeitpunkten und halten sie nach Möglichkeit für immer oder verkaufen sie erst, wenn sie das Geld im Rentenalter für ihren persönlichen Konsum benötigen.

Die meisten Indexfonds veranschlagen deutlich geringere Gebühren als aktive Fonds, die mir die Bank verkauft. Für meine Bankfonds habe ich Ausgabeaufschläge von 3% bis 5% gezahlt. Diese Gebühr wird gleich am Anfang fällig. Das heißt, wenn ich 10.000 Euro anlegen möchte, gehen davon sofort 300 bis 500 Euro an die Bank bzw. den Fondsbetreiber. Darüber hinaus berechnen aktive Fonds eine jährliche Verwaltungsgebühr, die üblicherweise zwischen 1,5% und 2% liegt. Diese Gebühr ist besonders tückisch, da ich sie als Anleger nicht sehe. Sie wird einfach vom Kurs abgezogen. Im Gegensatz dazu gibt es bei Indexfonds keinen Ausgabeaufschlag und für die wichtigsten Indizes liegt die jährliche Verwaltungsgebühr zwischen 0,05% und 0,30%. Wenn man bedenkt, dass ein Index auf lange Zeit Renditen von „nur“ 6 Prozent (inflationsbereinigt) erzielt, macht es einen riesigen Unterschied, ob ich 5% Ausgabeaufschlag und 2% pro Jahr Verwaltungsgebühr bezahle oder ob ich nur eine jährliche Gebühr von 0,3% zahle. Der aktive Fonds frisst einen großen Teil der Rendite auf.

„Wenn ich ehrlich bin, würde ich jedem Leser raten, sich in das Lager der [passiven] Anleger zu schlagen. Sie erzielen im Durchschnitt die beste Performance aller Börsenteilnehmer, denn auch von den Spekulanten gehört nur eine Minderheit zu den Gewinnern.“ – André Kostolany29

Oliver Noelting, der Frugalist, investiert sein gespartes Geld in kostengünstige Indexfonds. Sein Investmentportfolio veröffentlichte er im Blog. Es entspricht in wesentlichen Teilen den Empfehlungen Gerd Kommers, der mit „Souverän Investieren mit Indexfonds und ETFs“ die Bibel für deutsche Passivanleger geschrieben hat. Auf meine Frage, ob er beim nächsten Börsencrash in Panik verfallen oder die Krise aussitzen wird, zeigt Oliver sich zuversichtlich. Er liest viele Bücher übers Investieren und versucht den Aktienmarkt besser zu verstehen. Dieses Wissen hilft ihm dabei, seine Indexfonds auch in schlechten Phasen zu halten. Die größte Sicherheit gibt ihm aber seine Sparsamkeit. Solange er nur wenig Geld zum Leben braucht, muss es ihn nicht stören, wenn sich sein Vermögen vorübergehend halbiert.

Auch Warren Buffett schwört auf Indexfonds. Nach seinem Tod soll das Vermögen von einem Vermögensverwalter im Namen seiner Frau gehalten werden. Diesem Verwalter empfiehlt Buffet: „Mein Rat könnte einfacher nicht sein: Investiere 10% der Barreserven in kurzfristige Staatsanleihen und 90% in einen sehr kostengünstigen S&P 500 Indexfonds. Ich glaube, die langfristigen Resultate dieser Strategie werden denen der meisten Investoren überlegen sein.“30

Die Kunst, über Geld nachzudenken

„Über Geld spricht man nicht.“, heißt es im Volksmund. Man denkt offenbar auch nicht darüber nach. Ich kenne nicht viele Menschen, die ihre Ausgaben regelmäßig aufschreiben, eine feste Sparquote einhalten und ihre Überschüsse investieren. Zwar ist Geld ein sensibles Thema und jeder möchte mehr davon haben, aber letztendlich hat es kaum jemand, sondern gibt es gleich wieder aus. Was übrig bleibt, verliert auf dem Sparbuch an Wert.

Dass über Geld nicht nachgedacht wird, könnte daran liegen, dass die meisten Menschen sich nicht fragen, was sie vom Leben wollen. Sie leben ziellos vor sich hin. Dafür brauchen sie keine Ersparnisse. Wer hingegen weiß, was er will, kümmert sich um seine Finanzen. Denn Geld ist fast immer ein Mittel, um Ziele zu erreichen. Nicht, um sich davon Dinge zu kaufen, sondern die Zeit, sich seinen Zielen zu widmen. Wer nichts übrig hat, wird seine Lebenszeit und Lebensenergie für die Wünsche anderer Menschen aufwenden müssen.

Dabei könnten viele von uns zumindest zu moderatem Wohlstand gelangen. Wir müssten nur einmal über Geld nachdenken und dem einfachen Rat des Vorruheständlers Jim Collins folgen: „Gib weniger Geld aus, als du verdienst. Investiere die Differenz. Vermeide Schulden. Mach einfach nur das und du wirst reich sein. Nicht nur reich an Geld.“31

Mein Freund Marcus hat vor einigen Monaten damit begonnen. Erstmals in seinem Leben verwendet er das Wort „Sparen“. Er legt jeden Monat 10 bis 15 Prozent seines Einkommens zur Seite. Dafür hat er ein separates Konto eingerichtet, das er nicht anrührt. Das reicht nicht, um in absehbarer Zeit unabhängig zu werden. In seinem Alter braucht er eine Sparquote von etwa 40 Prozent, um sich in seinen Sechzigern zur Ruhe setzen zu können. Aber es ist ein wichtiger Anfang. Es macht ihn unabhängiger, und auch das ist viel wert. Er kann bald freiere Entscheidungen treffen und muss sich nicht alles gefallen lassen. Darüber hinaus wird er weiter in seine Unabhängigkeit investieren, um nicht erneut in einem Hamsterrad zu strampeln. Sein Ziel ist, im Alter das karge Leben zu vermeiden, das viele Menschen erwarten wird, die jetzt zu viel konsumieren.


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Ähnliche Artikel

Quellen

  1. Wikipedia: Hawthorne Effekt
  2. Das durchschnittliche Bruttogehalt von Vollzeitbeschäftigten betrug letztes Jahr 3.703 Euro pro Monat (siehe Statista). Für einen Single ohne Kinder ergibt das ein Nettoeinkommen von 2.264 Euro (siehe Brutto-Netto-Rechner).
  3. Mr. Money Mustache: How to Make Money Buy Happiness
  4. Statista: Was macht Ihnen große oder sehr große Sorgen?
  5. André Kostolany: Die Kunst, über Geld nachzudenken
  6. Forbes.com: Warren Buffett Becomes World’s Second Richest Person
  7. Alice Schroeder: The Snowball – Warren Buffett and the Business of Life (Zitat von mir übersetzt)
  8. Alice Schroeder: The Snowball – Warren Buffett and the Business of Life (Zitat von mir übersetzt)
  9. Statista: Sparquote der privaten Haushalte in Deutschland von 1991 bis 2016
  10. Finanzwesir: Es ist einfacher, 50 % seines Einkommens zu sparen als 10 %
  11. Frugalisten: Winterbericht 2016 – Ein Jahr Berserker-Sparen
  12. Finanzwesir: Vermögen werden in den 20ern gemacht
  13. Alice Schroeder: The Snowball – Warren Buffett and the Business of Life (Zitat von mir übersetzt)
  14. Bei einer inflationsbereinigten Aktienmarktrendite von 6 Prozent pro Jahr.
  15. WirtschaftsWoche Online: Fast jeder vierte junge Mensch spart gar nichts
  16. Deutsche Rentenversicherung: Rendite in der Rentenversicherung deutlich positiv
  17. Anleihen sind langfristige Kredite, die von Staaten oder Unternehmen ausgegeben werden.
  18. Später wurden die der Studie zugrunde liegenden Daten bis ins Jahr 2009 aktualisiert.
  19. Ein Wertpapierportfolio ist eine Sammlung von Wertpapieren, also Aktien, Anleihen und Fonds.
  20. Financial Planning Association: Portfolio Success Rates: Where to Draw the Line
  21. Mr. Money Mustache: How to be Happy, Rich and Save the World
  22. Statista: Welche Möglichkeiten der Geldanlage nutzen Sie aktuell?
  23. WELT Online: Die Deutschen sparen sich um ihr Vermögen
  24. Inflationsrechner
  25. Onvista: Kursverlauf des DAX
  26. Alice Schroeder: The Snowball – Warren Buffett and the Business of Life (Zitat von mir übersetzt)
  27. In Deutschland ist die Bezeichnung ETF noch geläufiger. Ein ETF ist ein Indexfonds, der an der Börse gehandelt wird. Wenn ich von Indexfonds schreibe, meine ich immer börsengehandelte Fonds.
  28. WirtschaftsWoche Online: 25 Jahre Dax – Rendite ohne Inflationssorgen
  29. André Kostolany: Die Kunst, über Geld nachzudenken
  30. Berkshire Hathaway Inc.: Shareholder Letter 2013
  31. jlcollinsnh.com: Manifesto

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