Warum uns (mehr) Empathie nicht weiterhilft

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Dieser verwirrte Mann im viel zu großen, ausgeblichenen Anorak (oder wie man diese Jacken in den 90er Jahren nannte). An seiner Hand baumelt eine Plastiktüte, die andere Hand umklammert ein altes Antennenradio. Daraus scheppert verrauschte Musik. Viele der Wartenden kennen ihn schon, denn an dieser Haltestelle sieht man ihn häufig. Der Mann fuchtelt wie wild und ruft unverständliche Worte. Daraufhin sind alle peinlich berührt und wenden sich wieder ihrem Smartphone zu. Noch ein paar Minuten, bis die eintreffende Bahn endlich die Situation auflöst.

Den meisten Leuten ist egal, was mit ihren Mitmenschen passiert. Diese Meinung teilten 82% der Befragten in einer Umfrage im Jahr 2017. 1 In Folge dieser gefühlten Gleichgültigkeit fordern Experten mehr Empathie. So meinen Historiker, es brauche in Europa mehr Empathie füreinander.2 Mehr Empathie für die Opfer extremistischer Straftaten fordern Politiker.3 Mehr Empathie für die Tsunamiopfer in Indonesien wünschen sich Auslandsjournalisten.4 „Mehr Empathie würde unserer Gesellschaft guttun“, habe auch ich mich bisher weit aus dem Fenster gelehnt. Das Plädoyer für mehr Empathie klingt einfach immer plausibel.

Man scheint Empathie für Feenstaub zu halten, den wir über all unsere Probleme streuen könnten. Deshalb schlagen auch Kritiker in Bezug auf die Generation Y in die Empathie-Kerbe. Man hält uns zwischen 1980 und 2000 Geborene für eine egoistische „Ich-Ich-Ich“-Generation mit geringem Empathievermögen und Hang zum Narzissmus.567 Wir seien so sehr mit uns selbst und unseren Smartphones beschäftigt, dass der zwischenmenschliche Kontakt zu kurz komme und wir uns deshalb weniger um andere kümmern. Darüber hinaus überfordere es uns auf intellektueller Ebene, andere Sichtweisen zu verstehen. Immerhin gestehen die Kritiker eine Mitschuld der technologischen Entwicklungen zu. Vielleicht wären unsere Eltern ähnlich Instagram-süchtig geworden, hätten sie in Zeiten von Woodstock & Co. schon Selfies machen können.8

Den hochsensiblen Personen (HSPs) in meinem Umfeld dürfte diese Beschreibung widerstreben, denn uns sagt man eine ausgeprägte Empathie nach. Viele von uns wünschen sich mehr Tiefe, echten zwischenmenschlichen Kontakt und vor allem mehr Empathie untereinander.

Wir kennen jedoch auch den Preis der oft hochgelobten Eigenschaft. Ein alltäglicher Aspekt ist, dass wir als Emotionsstaubsauger Freud und Leid gleichermaßen aufnehmen. Leid ist allgegenwärtig aufgrund der täglichen Meldungen zur Klimaerwärmung, zu Waldabholzungen, Mikroplastik etc. Das macht vielen zu schaffen. Viele HSPs können sich schwer abgrenzen, viele haben Erfahrungen mit depressiven Episoden; einige resignieren oder ziehen sich zurück, um nicht durchzudrehen. Diesen Rückzug kenne ich von mir selbst. Eine meiner Überlebensstrategien ist eine phasenweise Nachrichtendiät, mit der ich mich von Negativschlagzeilen abschirme. Diese Taktik sah ich bisher als persönliches Versagen an, als Kapitulation aufgrund eines zu dünnen Fells.

Forschern zufolge ist der Rückzug jedoch kein HSP-spezifisches, sondern universelles, menschliches Verhalten. Demzufolge wenden wir uns ab, wenn wir die Empathie nicht mehr aushalten, denn sie führt schlimmstenfalls zum Burnout. Diese Erkenntnis machte mich neugierig und rüttelte an dem guten Image, das Empathie bisher in meinen Augen hatte. Ich wühlte mich daraufhin durch den Begriffsdschungel aus Empathie, Einfühlung, Resonanz, Mitgefühl und Altruismus und wollte wissen: Kann man etwas gegen das Abstumpfen tun? Kann man empathisch sein, ohne mitzuleiden? Und was hilft gegen Weltschmerz?

Zur Beantwortung dieser Fragen müssen wir Empathie genauer unter die Lupe nehmen. Das lohnt sich schon deshalb, weil wir die Aufrufe der Experten danach mit anderen Augen sehen werden.

Empathie und Mitleiden

Empathie ist, wenn jemand ein Gefühl empfindet und eine andere Person sich damit ansteckt.9 Wir fühlen uns ein, versetzen uns in die Lage anderer und übernehmen deren Perspektive. Das klingt ungefährlich, wenn wir Freude oder Begeisterung teilen. Die bekennende Hochsensible Judith Poznan beschreibt diese Sonnenseite der Empathie folgendermaßen (mehr über sie in meinem Buch „Gestatten: Hochsensibel“):10

Wenn sich jemand über etwas wahnsinnig freut, fühle ich das auch. Demnach war ich schon fünf Mal schwanger, habe einen Doktor in Bio-Chemie, stand am Grand Canyon und habe quasi etliche andere Glücksmomente selbst miterlebt.

Im Gleichklang zu fühlen, scheint uns einander näher zu bringen – in guten wie in schlechten Zeiten, denn Empathie kann auch wehtun, wenn wir das Leid anderer bezeugen müssen. In Experimenten sollten Probanden dabei zusehen, wie ihre (Ehe-)Partner (leichte!) Elektroschocks verabreicht bekamen.11 Die Schmerzen zu beobachten, ließ die zusehenden Probanden ähnlich fühlen wie die Partner, die die Schmerzen tatsächlich erlebten. Man nennt dies empathische Reaktion im Gehirn, bei der die Bereiche vordere Inselrinde und Gürtelwindung aktiviert werden.

Aus diesem Grund nimmt es uns so mit, wenn wir Leid miterleben. So erging es kürzlich einer jungen Zahnärztin, die noch am Anfang ihrer Karriere steht. Sie litt so sehr mit einem Patienten mit, dass sie ihn nicht mehr behandeln konnte. Ein Kollege musste die Behandlung für sie fortsetzen.

Ich fühle und leide besonders mit Tieren mit. So packt mich der Weltschmerz, wenn Touristen die leider zutraulich gewordenen Affen ärgern oder verbotenerweise füttern. Außerdem rutscht mir jedes Mal das Herz in die Hose, wenn ich einen überfahrenen Igel sehe. Kürzlich kamen mir die Tränen, als ich eine Meldung von einer Walmutter las. Sie hatte tagelang um ihr Jungtier getrauert, es immer wieder angestupst und durchs Meer getragen. Nun ließ sie den Kadaver zurück.

Selbst in Pflanzen kann ich mich ein Stück weit einfühlen. Zum Beispiel litt ich mit, als die Pappeln im Hinterhof verschnitten – nein, verstümmelt – wurden. Ich kann deshalb gut verstehen, weshalb Judith Poznan Mitleid als eine ihrer stärksten Emotionen ansieht. Aber ist Mitleid eigentlich das gleiche wie Empathie?

Mitleid vs. Empathie

Mitleid ist, wenn man sich um jemanden sorgt, der schwächer ist als man selbst.12

Während Empathie gut gemeint ist, hat Mitleid einen von-oben-herab-Charakter. Mitleid ist zum Beispiel, wenn ich den verwirrten Anorakträger für nicht lebensfähig und auf jeden Fall unglücklich halte. Mitleid ist auch, wenn ich mich in fremde Probleme einmische, weil ich dem Besitzer nicht zutraue, dass er sie selbst lösen kann. Wir glauben manchmal, dass Mitleid tröstet, doch es nimmt den anderen nicht für voll und wirkt höchstens beschwichtigend. Mitleid war es wahrscheinlich auch, als sich die Coolen in der Klasse dazu herabließen, auf meinem Gipsarm zu unterschreiben. Ein bisschen stolz auf die Autogramme war ich trotzdem.

Nach Ansicht der Autorin Brené Brown13 kündigt sich Mitleid durch den Satzanfang „Wenigstens…“ an. Dazu nennt die US-Amerikanerin einige drastische Beispiele: Wenn jemand beispielsweise seine Eheprobleme erwähnt, entgegnet man aus Mitleid: „Wenigstens bist du verheiratet.“ Wenn eine Frau von ihrer Fehlgeburt erzählt, ist ein Kommentar aus Mitleid: „Wenigstens weißt du, dass du schwanger werden kannst.“

Mitleid ist offensichtlich so einfühlsam wie ein handelsüblicher Gartenschlauch. Deshalb lehnen die meisten Menschen Mitleid ab – so sehr sie auch vom Schicksal gebeutelt sind. Wenn wir jedoch auf der anderen, überlegenen Seite stehen, lassen wir uns dazu hinreißen. Wir wollen die andere Person aufmuntern, ablenken oder die peinliche Stille im Gespräch überbrücken.

Manchmal wird uns Mitleid allerdings auch aufgezwungen, wenn Menschen ihre Lage dramatisieren und somit um Mitleid heischen.14 Jeder kennt diese Leute, die sich ständig im Ausnahmezustand befinden – sei es gesundheitlich, beruflich oder beziehungstechnisch. Sie ziehen oft Menschen an, die gern eine Helfer-Rolle übernehmen und sich so gebraucht fühlen.

Im Alltag sind die Übergänge zwischen Mitleid und Empathie fließend. Beides bringt uns jedoch nicht weiter, denn Empathie ist nicht die Lösung, im Gegenteil – sie bringt erst recht Probleme mit sich.

Die Schattenseiten der Empathie

1. Empathie nutzt sich ab

Selbst die empathischsten Menschen können irgendwann nicht mehr, denn zu viel Empathie erzeugt empathischen Stress. Kein Wunder, dass Ärztinnen und Ärzte, Menschen in pflegenden und therapeutischen Berufen oft ausbrennen. Sie müssen viel Leid mit ansehen. In einer Studie war das von den Assistenzärzten subjektiv wahrgenommene Leid der Patienten hauptverantwortlich für ihre depressiven Symptome; nebensächlich waren hingegen die tatsächlichen Einschränkungen durch eine Krankheit oder die Behandlungsdauer.15

2. Empathischer Stress führt zum Abwenden

Um empathischen Stress zu lindern, gibt es zwei Möglichkeiten: Wir helfen dem Leidenden oder entziehen uns der Situation. Oft ist letzteres bequemer. Wir gehen beispielsweise schnell an einem Obdachlosen vorbei oder schalten auf Durchzug, wenn in den Nachrichten wieder einmal von Selbstmordattentaten die Rede ist. Was bleibt, ist oft Ohnmacht, wie Zeit-Online-Kolumnistin Ronja von Rönne schreibt: 16

[Die Ohnmacht] schlägt einem keine konkrete Handlungsanweisung vor, außer sich in der Decke einzurollen wie in einem Burrito und alles unerträglich zu finden. Dabei hilft das weder dem Obdachlosen, noch dem zerschlissenen Selbst, das sich ja trotzdem in einer solchen Welt zurechtfinden muss.

3. Empathischer Stress und eigennützige Hilfe

Der ideale Mensch sieht nicht weg, sondern hilft. Doch in der Realität kommt es laut Forschern17 darauf an, ob wir vorrangig Mitgefühl oder empathischen Stress empfinden – und wie leicht wir uns entziehen können. Mitgefühl lässt uns immer helfen, auch wenn wir uns wegdrehen könnten. Wir lassen also verirrte Touristen nicht weitersuchen, sondern schauen mit auf die Karte. Wenn wir von der Empathie gestresst sind und nicht wegkönnen, helfen wir gezwungenermaßen und senken somit unseren Stress. Das ist nicht gerade altruistisch, schließlich helfen wir in diesem Fall, damit es uns besser geht.18 Im dritten Szenario sind wir empathisch gestresst und es gibt Fluchtwege. Dann folgen wir den Leuchtstreifen am Boden und ab auf die Notrutsche! Ich klicke z. B. keine Videos über gequälte Käfighunde an – ich will ja in meinem Leben nochmal einschlafen können!

4. Empathie lässt uns unklug handeln

Empathie führe zu Irrationalität, sagt der entschiedene Empathie-Kritiker Paul Bloom.19 Seiner Meinung nach beeindrucken uns Einzelschicksale sehr – dafür scheren wir uns z. B. viel weniger um die Massen, die durch den Klimawandel betroffen sind. Über sie wissen wir nichts und kümmern uns daher nicht um sie. Als weiteres Beispiel sieht Bloom die Solidarität mit politischen Underdogs, wie Donald Trump vor seiner Wahl zum US-Präsidenten. Bloom zufolge erklärt sich Trumps Erfolg durch seine absichtlich emotionalen Auftritte, mit denen er Gegenwind produzierte, woraufhin sich wiederum mehr Menschen mit ihm solidarisierten.

5. Empathie ist selektiv

Wir sind längst nicht so freizügig mit unserer Empathie, wie wir glauben. Das heißt, wir reagieren nicht gleich empathisch auf alle Menschen um uns herum. Stattdessen beschränken wir uns vor allem auf diejenigen, die uns ähnlich sind, schreibt Carolin Würfel in ihrem Artikel „Das süße Gift der Empathie“.20 Demnach halten sich AfD-Wähler auch für empathisch – nur eben ist ihre Empathie auf andere AfD-Wähler ausgerichtet. Unser persönliches Umfeld steht uns meistens besonders nah. So fühle ich automatisch mehr mit einer Freundin mit, die in der Logistik in einer gehobenen Position arbeitet, als mit den Leuten auf der Fläche im gleichen Konzern.

6. Empathie ist noch kein Handeln

In Gruppensituationen gibt es meist eine Person, die zwar nichts tut, aber kluge Ratschläge erteilt. So in etwa tickt Empathie. Sie gibt bloß vor, eine aktive Handlung zu sein, dabei ist sie es nicht. Beispielsweise finden manche Menschen eine Nachrichtendiät feige und unverantwortlich. Sie glauben, man müsse doch informiert sein. Doch Nachrichtenkonsum allein hilft niemandem. Es kommt uns nur so vor, als täten wir schon etwas, da wir Zeit und Energie investieren.21 Wozu müssen wir also über jede Börsenverirrung und jeden umgekippten Sack Reis Bescheid wissen?

7. Empathie kann zur Waffe werden

Sadisten schöpfen Lust daraus, wenn sie sich in den Schmerz anderer einfühlen.22 Mit diesem Gefahrenpotential beschäftigt sich der Kognitionswissenschaftler Fritz Breithaupt. Er sieht Empathie längst nicht nur als Waffe für Psychopathen. Im Alltag komme empathischer Sadismus ebenfalls vor, z. B. wenn Menschen andere gern strafen oder bloßstellen oder wenn Helikopter-Eltern ihre Kinder mit ihrer Fürsorge erdrücken.

Diese Konsequenzen zeigen: Empathie allein hilft weder uns, noch anderen. Kommen wir deshalb zu der Alternative, die für uns alle besser ist.

Mitgefühl vs. Empathie

Mitgefühl heißt, sich um das Leid einer anderen Person zu sorgen und ihr helfen zu wollen, damit es ihr wieder besser geht. Empathie hingegen gilt als bloßes Spiegeln oder Verstehen der anderen Person.23

Als ich mit dem Rad am Hauptbahnhof vorbeifahre, sitzen vor dem Eingang einige Punks mit ihren Hunden auf dünnen Decken. Es sind gerade einmal zehn Grad und ich frage mich, ob ihnen wohl kalt ist – also den Hunden. Ein bisschen schäme ich mich, dass ich mit den Vierbeinern mehr mitfühle als mit ihren Besitzern. Oder ist es eher Mitleid? Übersteuerte klassische Musik lenkt mich von meinen Überlegungen ab. Damit versucht die Bahnhofsverwaltung die Herumsitzenden zu vertreiben. Ich denke daraufhin an die Komponisten und Musiker, deren Kunst hier zur Abschreckung dienen soll. Spontan fühle ich mit ihnen mit und frage mich, was sie wohl dazu gesagt hätten.

Die Neurowissenschaftlerin und Psychologin Tania Singer forscht schon lange zur Empathie. Im Jahr 2007 bat sie den weltbekannten, buddhistischen Mönch Matthieu Ricard um Mithilfe.24 Der studierte Molekularbiologe ist ein Experte auf dem Gebiet der Meditation und sollte sich in einem Laborexperiment auf das Leid anderer Menschen konzentrieren. Auf den Hirnscans erwartete man die bereits bekannte empathische Reaktion. Überraschenderweise sahen Ricards Auswertungen jedoch anders aus. Bei ihm waren andere Gehirnareale aktiv. Wie konnte das sein?

Die Lösung ist: Ricard empfand Mitgefühl anstelle von Empathie. Darin war er geübt, denn im Buddhismus sind Mitgefühl und altruistische Liebe25 wichtige Fähigkeiten, die durch Meditation geschult werden. Ricard konzentrierte sich beim Mitgefühl auf die Ursachen des Leids; daraus erwuchs der Wunsch zu helfen und sich zu verbinden. Das Mitgefühl führte demzufolge zu Verbundenheit sowie positiver und mütterlicher Liebe.

Konnte Ricard auch Empathie empfinden und wie manifestierte sich das in seinem Gehirn? Zur Beantwortung dieser Frage meditierte er mit einer gezielt empathischen (statt mitfühlenden) Haltung und dachte dabei an Unfallopfer und an eine BBC-Dokumentation über schwer kranke Kinder in einem rumänischen Krankenhaus. Erwartungsgemäß kam es zu einer empathischen Reaktion, die Ricard an seine Grenzen brachte. Nach über einer Stunde war er erschöpft und demotiviert. Das Experiment wurde daraufhin unterbrochen. Als er erneut in den Mitgefühlsmodus wechselte, leuchteten prompt wieder andere Gehirnareale auf den Bildschirmen auf. Er fühlte sich besser, den Kindern zugewandt und hilfsbereiter.26

Alles schön und gut, aber was haben die rumänischen Kinder davon, wenn ein Mönch in weiter Ferne meditiert? Ob nun Mitgefühl oder Empathie – ihr Leid bessert sich dadurch nicht. Diese Gedanken kommen natürlich beim Lesen dieser Geschichte. Ricard weiß um diesen Einwand und betont dennoch die Vorzüge des Mitgefühls.

Die Vorzüge des Mitgefühls

Mitgefühl sei immer positiv, weil wir dadurch handlungsfähig bleiben. Außerdem agieren mitfühlende Menschen prosozialer. In einer Studie trainierte eine Probandengruppe wochenlang nur Empathie, eine andere übte Meditation im Mitgefühl. Am Ende war die Empathie-Gruppe psychisch labiler und sensibilisiert für Leid – auch gegenüber fremden Menschen. Die Mitgefühlsgruppe hingegen war psychisch stabiler und hilfsbereiter.27

Mitgefühl lässt uns folglich positiver auf negative Reize reagieren. Das gleicht einer Win-win-Situation: der Mitfühlende reduziert seinen Stress und kann mit dem Leidenden besser mitfühlen und ihm helfen.28 So macht es im Normalfall auch eine fürsorgliche Mutter: Sie identifiziert sich nicht vollends mit den Schmerzen ihres kranken Kindes. Sie würde sonst mitleiden, nicht mehr schlafen, zusammenbrechen und nicht mehr für das Kind sorgen können. Stattdessen zeigt sie Mitgefühl, bleibt zugewandt und handlungsfähig; sie tut, was sie kann, kümmert sich aber auch um sich selbst (isst, trinkt und schläft).

Zusammengefasst gewinnt Mitgefühl eindeutig gegen Empathie:

  • Mitgefühl nutzt sich nicht ab.
  • Wir bleiben handlungsfähig, anstatt überfordert zu sein.
  • Wir bleiben zugewandt, anstatt uns zu entziehen.
  • Mitgefühl weckt positive Gefühle.
  • Mitgefühl führt zu prosozialem Verhalten.
  • Mitgefühl kann Resilienz (psychische Widerstandskraft) fördern.

Was kann man gegen Mitleiden und Weltschmerz tun?

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Ein Tiertransporter auf der Autobahn, die eingepferchten Kaninchen im Zooladen und ein dreibeiniger Hund auf der Hundewiese wecken automatisch Weltschmerz in mir. Mitleid(en) bringt aber niemandem etwas. Daran muss ich mich regelmäßig erinnern. Außerdem lässt Weltschmerz nach, wenn man sich eine Front heraussucht und im Rahmen seiner Möglichkeiten aktiv wird. Ich unterstütze beispielsweise eine Naturschutzorganisation sowie eine Meerschweinchennotstation und beteilige mich an Online-Petitionen. Das fühlt sich besser an, als nichts zu tun (mehr dazu in „Gestatten: Hochsensibel“). Um die Hemmschwelle zu senken, findest du hier einige Organisationen, die du unterstützen könntest: Ärzte ohne Grenzen, Tierärzte ohne Grenzen, Seenotretter, NABU, BUND, Greenpeace.

Mein erster Reflex ist meist Empathie – und das ist okay. Es kommt darauf an, in den nächsten Gang zu schalten und Empathie in Mitgefühl zu verwandeln. Das übe ich neuerdings und beobachte mich daher im Gespräch mit anderen: Empfinde ich Mitgefühl oder eher Mitleid? Höre ich wirklich zu? Bewerte ich oder gebe ich (ungefragt) Ratschläge? Widerstehe ich dem „Wenigstens“-Impuls? Schwierig ist es manchmal, wenn andere sich nicht die Mühe machen. Wenn sie stattdessen beschwichtigen oder plötzlich das Thema wechseln. Trotzdem kann ich mit positivem Beispiel vorangehen – auch mir selbst gegenüber. Selbstfürsorge heißt, sich sich selbst so zu behandeln, wie Eltern es tun würden. Wenn wir einen schlechten Tag haben, würden sie uns auf der Couch in eine Decke wickeln, einen Tee kochen und den Fernseher anmachen – aber nicht zu lange, sonst bekommt man quadratische Augen!

Tägliches Achtsamkeitstraining finde ich ebenfalls hilfreich. Ich fing durch ein Seminar damit an und verpasse seitdem zu meiner eigenen Überraschung fast keinen Tag mehr. Motiviert hat mich die Verbindlichkeit gegenüber der Kursleiterin und den Mitstreitern. Nach dem Seminar machte ich mit Audio-Anleitungen aus Podcasts und der App Headspace weiter. Dort gibt es auch spezielle Anleitungen für die Meditation im Mitgefühl. Mir hilft die Anleitung, nicht einzuschlafen oder zu sehr abzuschweifen. Zudem lerne ich zu unterscheiden, was meins ist und was nicht. Insgesamt macht mich diese Praxis sanfter, ausgeglichener und belastbarer. Wenn ich mich auf diese Weise gut um mich kümmere, kann ich auch besser für andere da sein und mich sogar in geringen Dosen wieder auf Nachrichten einlassen (z. B. über den empfehlenswerten Podcast Die Lage der Nation).

Ein weiterer anerkannter Ansatz ist die Theory of Mind. Hierbei fühlt man sich nicht in andere ein, sondern man denkt sich in andere hinein. Das führt zu mehr Distanz zum Gegenüber. Ärzte können sich beispielsweise aufgrund ihrer Expertise und Erfahrung kognitiv erschließen, wie es ihren Patienten geht. Der Theorie nach lindert dies empathischen Stress, was in medizinischen und therapeutischen Berufen ein wichtiges Anliegen ist.29

Wenn du mehr über Mitgefühl lernen möchtest, empfehle ich dir das kostenlose eBook „Mitgefühl in Alltag und Forschung“ von Tania Singer und Matthias Bolz. Es ist als PDF, E-Pub- oder Kindle-Version verfügbar.


Mit dem Wissen um Empathie und Mitgefühl denke ich an den Mann mit dem Antennenradio zurück. Ich frage mich, ob ich überhaupt Empathie oder eher Mitleid empfinde. Über ihn und die Punks am Bahnhof weiß ich jedenfalls nichts. Wir haben nichts gemeinsam. Ich kann mich dementsprechend schwer in sie hineinversetzen. Davon könnten sie sich aber ohnehin nichts kaufen.

Holen wir doch die Empathie von ihrem hohen Ross herunter und geben uns stattdessen Mühe, echtes Mitgefühl zu entwickeln – für diejenigen, die es brauchen und wollen.



Ähnliche Artikel

Quellen

  1. Statista: Finden Sie, dass sich die meisten Leute in Wirklichkeit gar nicht darum kümmern, was mit ihren Mitmenschen geschieht?
  2. Andreas Rödder im Gespräch mit Birgid Becker: „Europäer brauchen Empathie füreinander“
  3. T-Online: Götze: Mehr Empathie für Opfer extremistischer Straftaten
  4. Daniel-Dylan Böhmer: Dass uns der Tsunami in Indonesien kaltlässt, ist gefährlich
  5. Millennials: The Secrets, Apprehension, and Hopes of The Generation
  6. Statista: Ist die heutige junge Generation aus Ihrer Sicht nur auf ihren persönlichen Vorteil aus?
  7. Tagesspiegel: Lassen Sie mich durch, weil ich es bin!
  8. Millennials: The Secrets, Apprehension, and Hopes of The Generation
  9. Olga Klimecki, Matthieu Ricard, Tania Singer: „Empathie versus Mitgefühl“ in Mitgefühl. In Alltag und Forschung
  10. Judith Poznan: Von meinem Leben als Hochsensible
  11. Kristin Raabe: Mitleiden im Gehirn
  12. Frei übersetzt nach: Roy F. Baumeister, Kathleen D. Vohs: Encyclopedia of Social Psychology, SAGE Publications, 2007, S. 159
  13. Brené Brown: Brené Brown on Empathy
  14. Jörg Heidig: Mitleid oder Mitgefühl? Ein entscheidender Unterschied…
  15. J. J. Hillhouse , C. M. Adler & D. N. Walters: A simple model of stress, burnout and symptomatology in medical residents: A longitudinal study
  16. Ronja von Rönne: Schluss mit der Ohnmacht
  17. C. D. Batson et al.: Influence of self-reported distress and empathy on egoistic versus altruistic motivation to help
  18. Olga Klimecki, Tania Singer: Empathic distress fatigue rather than compassion fatigue?
  19. Steve Ayan: Schattenseiten des Mitgefühls
  20. Carolin Würfel: Das süße Gift der Empathie
  21. David Cain: Five Things You Notice When You Quit the News
  22. Bodo Morshäuser: Ganz einfühlsam das Schlechte tun
  23. Frei übersetzt nach: Roy F. Baumeister, Kathleen D. Vohs: Encyclopedia of Social Psychology, SAGE Publications, 2007, S. 159
  24. Matthieu Ricard: Von der Empathie zum Mitgefühl in einem neurowissenschaftlichen Labor
  25. Altruismus ist die selbstlose Sorge für das Wohlergehen anderer.
  26. Olga Klimecki, Matthieu Ricard, Tania Singer: Empathie versus Mitgefühl in: Mitgefühl in Alltag und Forschung
  27. Ebd.
  28. Dokumentarfilm Raising Compassion im Auftrag des Max-Plack-Instituts von Studio Olafur Eliasson
  29. WIkipedia: Theory of Mind

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