Warum du nicht vor dir selbst weglaufen kannst

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Anfangs wollte ich einfach nur verreisen. Einmal um die ganze Welt. Nicht ewig – nur für ein halbes Jahr. Nachdem ich aus meiner Firma ausgeschieden war, hatte ich die notwendige Zeit sowie das Geld dafür. Die Reise sollte ein einmaliges Erlebnis werden, an dessen Ende ich zurückkehren und wieder irgendwo fest arbeiten wollte. Doch dann kam es anders. Unterwegs startete ich einen erfolgreichen Blog, der bald meine Reisen finanzierte.

Deshalb blieb ich nach meiner Rückkehr nur wenige Wochen in Deutschland. In kurzer Zeit traf ich Freunde und Familie und zog anschließend weiter. Erst später versuchte ich länger in Berlin zu bleiben. Zwei Monate sollten es werden. Zwei Monate, in denen ich mich um einen neuen Alltag bemühte. Doch das war schwerer, als gedacht, denn mir fiel schnell die Decke auf den Kopf. Nachdem ich alle Freunde einmal getroffen hatte, wusste ich mit mir nichts mehr anzufangen. Ich fühlte mich zunehmend allein und sah wenig Sinn in meinem Dasein. Für meinen Geschmack hatte ich zu wenige tiefe Freundschaften und eine Partnerin fehlte mir auch.

Damals begann ich davonzulaufen.

Ich verkürzte die Zeit in Berlin um ein paar Wochen und flog früher nach Mexiko, als geplant. Kaum war ich dort angekommen, fühlte ich mich schlagartig besser. Am blauen Himmel lachte die Sonne, es gab viel zu entdecken, ich lernte Spanisch und traf andere Reiseblogger. Auch meine Sinnfragen lösten sich in Luft auf. In jenen Tagen war ich fröhlich, wusste aber, dass das nicht von Dauer sein würde. Damals schrieb ich in die Heimat, es würde mir gut gehen, ich wisse aber, dass das zu Hause nicht anhalten würde. Im Alltag könnte ich meine Sehnsucht nach besseren Beziehungen nicht länger unterdrücken. Ich wusste, dass ich auf der Flucht war.

Trotz dieser frühen Einsicht sollte es noch anderthalb Jahre dauern, bis ich wieder sesshaft wurde. So lange brach ich immer wieder auf, um mich am anderen Ende der Welt besser zu fühlen, als ich es zu Hause konnte. Wenn ich in Bewegung blieb und Neues entdeckte, ging es mir gut. Über das, was mir fehlte, dachte ich in dieser Zeit kaum nach.

Doch je länger ich reiste, desto mehr verlor das Neue seinen Reiz. Bald wollte ich keine Tempel, Wasserfälle und Strände mehr sehen. Sie sahen alle gleich aus. Ich verlor zunehmend die Lust weiterzuziehen und verweilte immer länger an einzelnen Orten.

Als die tägliche Abwechslung ausblieb, spürte ich schnell, dass ich mich im Ausland nicht automatisch wohl fühlte. Schließlich war ich derselbe Mensch geblieben. Egal, ob ich mich in Leipzig oder in Kapstadt aufhielt, ich hatte dieselben Gedanken und Gefühle, Selbstzweifel und Sinnfragen. Ich war immer noch der ruhige Typ mit dem schwachen Selbstwertgefühl. Wohin ich auch ging, ich nahm mich selbst immer mit.

Reisen und andere Symptome einer Flucht

Als digitaler Nomade war ich nicht der Einzige, der auf der Flucht war. Die meisten Nomaden wollten ihr altes Leben verlassen und etwas Neues machen. Der eine oder andere konnte sich zwar vorstellen, in die Heimat zurückzukehren, hatte aber Angst, sich in einem normalen Alltag nicht mehr zurechtzufinden.

Reisen ist allerdings nicht die einzige Möglichkeit, vor sich selbst und seinen Problemen davonzulaufen. Auch andere Verhaltensweisen können Symptome einer Flucht sein. Bevor ich anfing zu reisen, stürzte ich mich häufig in meine Arbeit. Ich blieb oft bis zum späten Abend im Büro. Am Wochenende arbeitete ich von zu Hause. Neben meinen Jobs verfolgte ich zeitweise noch andere Projekte. Damit war ich meist erfolgreich, was mich umso mehr dazu bewog, mein Selbstwertgefühl aus der Arbeit zu ziehen. Abseits meiner Jobs fühlte ich mich allerdings eher unwohl.

Jeder flieht auf seine Weise. Für die einen sind es Arbeit und Reisen. Andere ziehen in eine neue Stadt – als wäre dort alles besser – oder wechseln den Job, in der Hoffnung, dass der nächste sie endlich glücklich macht. Manch einer sieht die Antwort auf seine Unzufriedenheit in einer größeren Wohnung oder einem Eigenheim. In anderen Fällen soll ein neuer Partner die Wende bringen oder ein Kind die Beziehung retten.

Viele Menschen sehnen sich nach einem Neuanfang. Würden sich bloß die äußeren Umstände ändern, ginge es ihnen besser. Glauben sie. Doch egal, was wir im Äußeren ändern, es ist nie eine Lösung für die Probleme im Inneren. Wir alle nehmen uns selbst immer mit, denn am Ende sind es noch immer wir, die den nächsten Job ausüben, in dem neuen Haus leben oder eine Partnerschaft auf die Reihe bekommen müssen. Wir schauen aus den gleichen Augen, stecken im gleichen Kopf, haben die gleichen Erinnerungen an die Vergangenheit und Erwartungen an die Zukunft.

Aushalten statt weglaufen

Veränderungen können wir nur in uns selbst bewirken. Um uns mit uns selbst wohl zu fühlen, müssen wir an der Wurzel des Schmerzes ansetzen. Je eher wir das tun, desto besser, denn die Probleme verschwinden nicht von allein und manchmal werden sie dringender, je weiter wir versuchen vor ihnen wegzulaufen. Indem ich mich in die Arbeit stürzte und später immer wieder verreiste, entfernte ich mich von meinen eigentlichen Zielen. Ich wollte bessere Beziehungen, aber die gibt es nicht in Nachtschichten und auf Weltreisen. Ich nahm mir selbst die Gelegenheit, meine Freunde und neue Menschen besser kennenzulernen. Ich war nur im Büro oder auf Reisen.

Meine Arbeit hat sich mittlerweile geändert. Sie steht nicht mehr im Vordergrund meines Lebens. Ich erlaube mir, anderen Dingen mehr Raum zu geben. Außerdem arbeite ich nicht mehr allein, sondern mit Jasmin, und kann auf diesem Wege gleichzeitig eine Freundschaft vertiefen.

Zudem hörte ich im vergangenen Jahr auf zu reisen. Ich zehre nun nicht mehr von der täglichen Veränderung und den Highlights des Reisens, sondern versuche mir einen ganz gewöhnlichen Tag schön zu gestalten. Währenddessen kann ich an meinen Beziehungen arbeiten oder neue aufbauen, die dafür nachhaltig und nicht vom Wetter abhängig sind, so wie es beim Dauerreisen war. Ich schaffe mir Gelegenheiten, bei denen ich neue Menschen kennenlerne. So gehe ich ein wenig mehr auf meine Nachbarn zu, besuche häufiger Veranstaltungen, nehme an einem Tanzkurs teil, treibe Sport mit anderen Menschen, melde mich für Gruppenreisen an und forciere das Online-Dating mehr als zuvor. Das alles sind neue Routinen, die mich meinen Zielen näher bringen.

Das heißt nicht, dass ich mich zu Hause immer wohl fühle. Es gab Phasen, in denen ich am liebsten davonlaufen wollte. Einfach ins Flugzeug und weg. Aber ich zwinge mich dazu, auch mal etwas auszuhalten, anstatt die Flucht zu ergreifen.

Auch wenn nicht immer alles schön ist, spüre ich, wie es in meinem Leben vorangeht. Meine Freundschaften haben sich verbessert. Bis vor zwei Jahren sah ich meine Freunde nur alle paar Wochen. Wir erzählten uns, was es Neues gab, und gingen unserer Wege. Das ist heute viel besser. Auch beim Thema Partnerschaft sieht es jetzt gut aus. Es hat sich für mich ausgezahlt, nicht mehr ins Arbeiten und Reisen zu fliehen.

Wahrscheinlich würde sich das für jeden auszahlen. Auch für dich, falls du vor etwas davonläufst. Nur leider fühlt es sich anfangs nicht danach an. Da ist es leichter, dem Fluchtreflex nachzugeben. Deinen Problemen ins Auge zu sehen, kostet viel Energie. Es bedeutet, Zeit mit dir allein zu verbringen, deine Komfortzone zu verlassen, traurige Momente auszuhalten und Verantwortung für dich selbst zu übernehmen.

Aber auch wenn die große Zufriedenheit anfangs auf sich warten lässt, wird zumindest dein Selbstwertgefühl davon profitieren, wenn du deine Probleme aushältst, statt davonzulaufen. Denn Selbstwertgefühl entsteht aus Akzeptanz, bewusstem Erleben und Eigenverantwortung. Mit der Zeit wird auch der Fluchtreflex geringer werden, denn warum solltest du vor jemandem fliehen, den du selbst magst?


Foto: Mann mit Koffer von Shutterstock

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