Stimmt das Bild, das du von dir hast?

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Es ist das Jahr 1995. Ca. 20 Mädchen und Jungs ziehen sich im Klassenzimmer um und kleben sich die Ohrstecker ab. Dann trotten sie raus auf den Schulhof. Ich bin eine dieser ErstklässlerInnen, die nun eine Stunde Sportunterricht vor sich hat, und ich hasse ihn – egal, ob wir zum Dauerlauf, Weitsprung oder Sprint antreten sollen. Die engen Klamotten, die Ungewissheit, der Wettkampf. Trockenen Unterricht mag ich viel lieber, aber mich fragt natürlich niemand.

Auf dem Weg zur Laufbahn frage ich das zierlichste und unsportlichste Mädchen der Klasse, ob sie meine Gegnerin sein will. Davon erhoffe mir gute Gewinnchancen. Offenbar ist mein moralischer Kompass damals noch nicht installiert, denn ich biete ihr sogar an, sie gewinnen zu lassen, mache es dann aber nicht. Ich erinnere mich heute nicht mehr genau an diese Unsportlichkeit, aber vielleicht hat mein Gehirn sie einfach nur erfolgreich verdrängt.

Manchmal stand ich wie eine Turnbeutelvergesserin neben der Lehrerin und konnte nicht einmal etwas dafür. Während die anderen im Dauerlauf ihre Runden drehten, verbot mir mein Belastungsasthma jeglichen Ausdauersport. Deshalb hatte meine Lehrerin auch immer mein Spray in der Hosentasche, falls ich ihn brauchte.

Später konnte ich immerhin ganz gut Bälle fangen und war deshalb beim Wählen der Mannschaften unter den vorderen Kandidaten. Trotzdem fühlte ich mich als Extrawurst bzw. Rotwurst, denn ich lief schon nach wenigen Minuten der Anstrengung seeehr rot an. Der Begriff Sportmuffel beschreibt mein damaliges Ich jedenfalls recht gut.

Seit damals sind nun 23 Jahre vergangen und heute ist alles anders. Ich habe schon lange kein Asthma mehr; Sport macht mir Spaß und ich fühle mich so fit wie noch nie. Zum Training kann ich mich immer motivieren, egal welche Laune ich habe oder wie pessimistisch sich der Regenradar gibt. Das Training unter freiem Himmel wird höchstens bei einem Tornado abgesagt und das ist allen klar, die wie ich bei Wind und Wetter zum Treffpunkt kommen. Über meine Gesichtsfarbe denke ich auch nicht mehr nach, denn ich bin nicht mehr die einzige Rotwurst.

Der Wandel von damals ist inzwischen auch optisch gut sichtbar, aber es fühlt sich nicht immer so an. In manchen Momenten komme ich mir noch wie das Mädchen von damals vor: kräftig, nicht dick, als hätte ich immer noch 90er-Jahre-Radlerhosen und ein weites T-shirt an, das hoffentlich meinen Bauch kaschiert. Die anderen erscheinen mir cooler als ich. Sie sind bestimmt schon in Lauftights und einem bauchfreien Oberteil auf die Welt gekommen. Deshalb sind einige von ihnen auch in einem zweiten Fitnessstudio angemeldet und gehen manchmal nach dem Training zu einem zweiten Kurs.

Mein Selbstbild von damals ist eingefroren, während sich mein Vergleichsmaßstab nach oben verschoben hat. Früher war ich das Ende der Leistungskette, heute gehöre ich zur Spitze, schiele aber noch weiter hoch. Der Anblick meiner Muskeln sollte mich eines Besseren belehren, aber ein verschobenes Selbstbild hält sich hartnäckig, unabhängig davon, wie überholt es ist.

Immerhin beschäftigen mich diese Gedanken längst nicht mehr so wie früher. Andere Menschen hadern tagtäglich mit sich. Zum Beispiel schreiben vor allem Frauen in Abnehm-Foren, dass sie sich immer noch dick fühlen, obwohl sie stark abgenommen haben und mittlerweile Kleidergröße 38 tragen. Das Bild, das sie von sich selbst haben, stimmt einfach nicht.

Außen- vs. Selbstwahrnehmung

Außen- und Selbstwahrnehmung widersprechen sich nicht nur bei Äußerlichkeiten. Auch seine Fähigkeiten kann man völlig unterschätzen. Von einigen Menschen in meinem Umfeld weiß ich, dass sie sich höchstens durchschnittlich fühlen. Bei Frauen ist das besonders auffällig. Sie glauben oft, nichts besonders gut zu können. Dabei haben sie meist verschiedene Qualifikationen, sprechen mehrere Sprachen, waren z. T. mehrmals im Ausland, studieren noch nebenbei usw.

Eine Freundin von mir ist Akademikerin und seit vielen Jahren in einem großen Konzern angestellt. Sie erzählte mir vor einiger Zeit, dass nahezu jeder ihren Job machen könne. Es brauche keine spezielle Qualifikation oder Erfahrung und das Studium spiele ebenso wenig eine Rolle. Es sei kein besonders anspruchsvoller Job, deshalb sei auch kein besonderes Personal nötig.

Es mag sein, dass sich nahezu jeder in einen Job hineinfitzen kann und ihre Arbeit nicht gerade ein James-Bond-taugliches Setting ist. Doch von außen sehe ich vor allem eine Frau, die sich selbst weit unterschätzt. Sie ist erfahren, spezialisiert, weitergebildet – und garantiert nicht so leicht austauschbar. Sie steckt jedoch selbst zu tief drin, um das zu erkennen. Vielleicht stammt ihr Denken aus längst vergangenen Zeiten?

So ähnlich ging es wahrscheinlich auch den Frauen, an denen erstmals das Hochstapler-Syndrom untersucht wurde. Sie waren erfolgreich und hochqualifiziert, fühlten sich jedoch nicht gut genug.

Trotz offensichtlicher Beweise für ihre Fähigkeiten sind [vom Hochstapler-Syndrom] Betroffene davon überzeugt, dass sie sich ihren Erfolg erschlichen und diesen nicht verdient haben. Von Mitmenschen als Erfolge angesehene Leistungen werden von Betroffenen dieses Symptoms mit Glück, Zufall oder mit der Überschätzung der eigenen Fähigkeiten durch andere erklärt.1

Ob man dieses Syndrom von Geburt an hat oder es erwirbt, ist nicht abschließend geklärt. Ich fühlte mich jedenfalls vor der Veröffentlichung meines letzten Buches wie eine Hochstaplerin und glaubte, keine richtige Autorin zu sein. Damit scheine ich keine Ausnahme zu sein, denn auch in einschlägigen Podcasts geht es oft um das Gefühl, eigentlich gar nicht richtig schreiben zu können. Dies scheint sich auch nicht zu legen, wenn man auf der Karriereleiter offensichtlich nach oben klettert. So ist beispielsweise Dilek Güngör stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift „Kulturaustausch“ und bekennt sich zum Hochstapler-Syndrom. Sie schreibt in ihrem Gastbeitrag für Zeit Online:2

Das Gefühl, nicht mithalten zu können, packt mich dann, wenn ich unter meinesgleichen bin: Journalisten, Schriftstellern, Akademikern. Alles, was ich weiß, verblasst neben der vermeintlichen Kennerschaft und dem Wissen der anderen, und ich komme mir vor, als täte ich nur so, als wäre ich eine von ihnen. […]

Ich warte immer noch auf den Moment, in dem alles auffliegt. Es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis einer kommt, gründlich schaut und dann nur Durchschnittlichkeit findet. Oder nicht mal das.

Ursache und Wirkung

Mangelnde Anerkennung ist laut Dilek Güngör eine Ursache für das Hochstapler-Syndrom. Dadurch entstehe das Gefühl, eigentlich nicht dazuzugehören. Und wem fehlt sie nicht, die Anerkennung von anderen?! Doch es liegt nicht in unserer Macht, wie viele nette Worte wir von anderen bekommen. Umso wichtiger ist der Blick auf unseren eigenen Anteil am verzerrten Selbstbild.

Die Selbstwahrnehmung kann nämlich verschoben sein, wenn wir uns zu oft von außen betrachten und bewerten, d. h., durch die Augen von Anderen. So geraten Innen- und Außensicht aus der Balance. Studien zufolge sind Frauen dafür eher anfällig.3 In einem Experiment zeigte sich beispielsweise, dass Frauen sich schlechter auf ihren Puls konzentrieren konnten, wenn sie grundsätzlich viel über ihre Außenwirkung nachdachten. 4

Wie viel Wert wir auf unsere Außenwirkung legen, ist an der inneren Stimme erkennbar, die uns Dinge zuflüstert, wie z. B.: So willst du rausgehen? Was sollen die anderen denken! Oder: Das kannst du doch gar nicht. Diese Stimme will uns vor Blamagen schützen und orientiert sich dazu an der Vergangenheit. Was damals nicht geklappt hat, geht vielleicht wieder schief – also nicht ausprobieren! Diese Vorsichtsmaßnahme kann sich zu einer Blockade auswachsen, wie ich am Beispiel des Malorts beschreiben will, den eine Bekannte von mir betreibt. In ihren Kursen sollen die TeilnehmerInnen ohne jede Vorgabe malen, einfach frei von der Leber weg – und man kann es sich vorstellen: manche kämpfen sehr mit sich. Schließlich ist es schwer, irgendetwas zu malen – ohne gefallen zu wollen. Als Kind bekam man immer eine Note, es gab gut oder schlecht. Meinen Kunstlehrer konnte man mit unsauberen Strichen regelrecht verärgern, was eine gewisse Atmosphäre der Angst erzeugte. Kein Wunder, dass wir als Erwachsene das freie Malen oft verlernt haben.

Außerdem ist diese innere Stimme der Meinung: Du bist doch kein Künstler. Du hast doch noch nie gut gezeichnet. Zwar gehört diese Stimme selten uns selbst, sondern kann von Eltern, Großeltern, Geschwistern, einem Ex-Partner – oder besagtem Kunstlehrer stammen. Entscheidend ist, ob wir die Botschaft heute noch glauben oder nicht.

Manchmal hält uns ein verzerrtes Selbstbild davon ab, uns treiben zu lassen oder uns richtig zu öffnen. Oder wir trauen uns nicht, das zu tun, was wir schon immer wollten, wie zum Beispiel: ein Buch schreiben, Karaoke singen oder eine Weltreise machen oder tanzen. Der Blogger David Cain hielt sich z. B. jahrzehntelang für einen Tanzmuffel. Mit 30 überprüfte er diese Annahme endlich noch einmal – und stellte fest, dass in ihm geradezu der Bär steppte.5 (Mehr dazu in meinem Buch „Gestatten: Hochsensibel“)

Ich rüttele jedenfalls gerade an meinem Selbstbild. Jahrelang dachte ich, dass ich mit Logik und Zahlen nicht viel am Hut habe. Ich hielt mich immer für sprachlich interessiert sowie zu ungeduldig und unsystematisch für Knobelaufgaben. Sicher rührte dieses Bild auch daher, dass ich mich stets mit meinem Bruder verglich, einem Mathe- und Informatik-Genie. Trotzdem hatte ich im Laufe der letzten Jahre immer mal wieder den Impuls, es mit Programmieren zu versuchen. Doch ich redete es mir selbst aus – mit der bestechenden Argumentation: Du bist doch keine Programmiererin. Das warst du doch noch nie.

Vor ein paar Monaten fing ich dann endlich an. Ich machte verschiedene Online-Tutorials, kämpfte mich durch die Grundlagen und löse nun erste kleine Alltagsprobleme mit selbst gebauten Skripten. Wer weiß, wohin mich dieses absichtslose Ausprobieren noch führt. Vielleicht verliere ich bald wieder die Lust oder lasse mich von irgendeinem Widerstand einschüchtern. Aber dann habe ich es zumindest probiert und weiß, was ich nicht mehr will. Und ich habe mir selbst bewiesen: Ich bin keine Turnbeutelvergesserin mehr. Weder im wörtlichen, noch im übertragenen Sinne.

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Quellen

  1. Wikipedia: Hochstapler-Syndrom
  2. Dilek Güngör: Warten auf den Moment, in dem es auffliegt
  3. ORF.at: Wenn das Ich den Körper verliert
  4. Vivien Ainley, Manos Tsakiris: Body Conscious? Interoceptive Awareness, Measured by Heartbeat Perception, Is Negatively Correlated with Self-Objectification
  5. David Cain: The person you used to be still tells you what to do

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