Kräftig. Nicht dick.

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Nur ein paar Kilo weniger. Dann wäre ich viel glücklicher.

Ich weiß nicht, wie ich als Kind und Jugendliche darauf kam, dass sich mit ein paar Kilo weniger alles viel besser anfühlen würde.

Unsere Urahnen werden nicht so gedacht haben, während sie einem Mammut nachjagten. Aus Sicht der Evolution macht dieser Gedanke wirklich keinen Sinn.

Doch es ging mir jahrelang so. Während Patrick mit seinen zeitweise 150 Kilogramm und dessen Folgen zu kämpfen hatte, fühlte ich mich mit ca. der Hälfte des Gewichts ziemlich unwohl.

patrick ich collage 2

Wenn ich heute auf mein früheres, kräftiges, nicht dickes Ich zurückblicke, erinnere ich mich an das Unwohlsein, die Gemeinheiten zu Schulzeiten und was ich tat, in der Hoffnung, die Anderen könnten es vielleicht einfach nicht sehen.

Vielleicht erkennst du dich in meiner Geschichte wieder – egal, ob du 3, 10 oder 50 Kilogramm zu viel wiegst oder gewogen hast.

Mädchenkullerbauch und „Das streckt sich noch“

vor KinderwagenZur Geburt wog ich 4.150 Gramm. Ein ganz schöner Brocken – das sagt meine Mutter heute noch. Was das spätere Leben angeht, ist das Geburtsgewicht nicht unbedingt aussagekräftig, nicht aussagedick. Aber ich war schon ein eher properes Kind.

Als ich in die Schule kam, hatte ich ein rundes Gesicht und einen Mädchenkullerbauch, wie ihn eben Mädchen haben. Der blieb auch und ich hörte meine Oma öfter sagen: „Das streckt sich schon noch“, während sie mir ein Eis gab.

Ich hatte die Oberschenkel meines Vaters (Geburtsgewicht über 5.000 Gramm) geerbt, worauf er seit jeher stolz ist. Ich konnte sie früher noch nicht so schätzen.

Die destruktiven Gedanken fingen in der Grundschule an, als es Mode war, sich in Freundschaftsalben einzutragen.

Wer hat eigentlich die Frage nach dem Gewicht in Freundschaftsalben erfunden? Wozu? Was tut das zur Sache?

Auch als Steckbriefe in der fünften Klasse im Deutschunterricht dran waren, galt meine erste Sorge der Frage nach dem Gewicht. Was sollte ich dort eintragen? Einfach frei lassen?

Ich wusste, dass ich damals schon ca. 10 Kilo mehr wog als die schmächtigsten Klassenkameradinnen. Ich ließ sie unter den Tisch fallen und hoffte, dass sich niemand über meine selbstbewusst geschriebene „35“ wundern würde.

Klassenfahrt und Karateanzüge – yay…

Ferienlager? Klassenfahrt? Ich fühlte mich unwohl, wenn ein Freibad oder Schwimmunterricht anstanden. Es waren gefühlt alle schlanker und hübscher als ich. Ich trug nie einen Bikini, sondern den sportlichen Badeanzug mit streckenden Streifen an der Seite. Dass ich relativ schnell schwomm, tröstete mich nicht.

Ich war diejenige, die das kräftige, nicht dicke, Pferd beim Ferien-Reiten bekam. Den einzigen Schimmel, den ich natürlich nicht gewollt hatte.

Auf Fotos versuchte ich den Bauch einzuziehen und das Oberteil nochmal günstig fallen zu lassen. Als ob das einen Unterschied machte!

Dieses Phänomen beobachte ich häufiger, wenn ich alte Fotos angucke. Wie ich mich damals anstrengte, figurgünstige Sachen anzuziehen, weich fallende Stoffe und streckende Muster zu tragen!

Letztendlich sah man damals sowieso auf den ersten Blick (bzw. heute mit etwas Abstand), dass ich eben kräftig war. Nicht dick.

Bei einem weißen Karateanzug mit farbigem Gürtel gibt es nichts zu kaschieren. Der Anblick war gnadenlos und bereitete mir regelmäßig Schamgefühle.

„Wie viel wiegst du eigentlich?“

Kinder sind grausam. Manche Mädchen fanden es entweder lustig oder dachten sich nichts dabei, mich direkt zu fragen, wie viel ich denn eigentlich wiege. Auch Freundinnen.

Natürlich sagte ich nie die Wahrheit, sondern ließ immer ca. 10 bis 15 Kilo unter den Tisch fallen. Oder sagte gar nichts. Das schürte aber nur noch mehr Neugier und ging somit nach hinten los.

Jetzt kann ich es ja sagen.

In meinen „Topzeiten“ wog ich ca. 74 Kilo, das sind gute 10 Kilo mehr als jetzt. Bei einer Körpergröße von ca. 1,71 m ist das nicht die Welt, aber ich war schon eher kräftig gebaut.

Kräftig. Nicht dick.

Trotz dieser gut gemeinten Formulierung schmerzte es trotzdem, wenn mich jemand als kräftig bezeichnete. Ist schon klar, dass dick gemeint ist. Nicht fett, aber auch nicht schlank.

Es mag komisch klingen, aber ich verhandelte regelmäßig mit meiner Mutter abends am Bettrand, ob sie mit mir die Oberschenkel tauschen würde. Sie hätte es getan. Nur leider ging es nicht.

Meine Mutter stand mir immer uneingeschränkt bei. Das war ein großer Trost. Mit viel Geduld beriet sie mich, was figurschmeichelnde Schnitte und Farben anging.

Im Urlaub verglich sie mich mit viel schlankeren Mädchen, wenn ich sie fragte, wie ich ungefähr aussehe. Sie tröstete mich, wenn ich die durchtrainierten Animateurinnen um deren Körper beneidete.

Sie beruhigte mich, wenn ich Panik vorm Wiegen beim Skiverleih (Bindung einstellen!) hatte.

Ich weiß nicht genau, wie ich aushielt, für Karate-Wettkämpfe gewogen zu werden. Schließlich musste man mich der richtigen Gewichtsklasse zuordnen. Ich glaube, meine Trainer schätzten nur und niemand kontrollierte nach. Es war schließlich kein Profi-Boxen!

Die 90er: Bauchfreie Provokation

Natürlich war ich ein Britney-Spears-Fan der ersten Stunde. Natürlich wollte ich auch gern etwas Bauchfreies anziehen. Nach einem Blick in den Spiegel ließ ich es dann doch.

Nach frustrierenden Shopping-Touren leistete meine Mutter regelmäßig Aufbauarbeit. Psychologische erste Hilfe.

Sie empfahl mir auch eine kühlende Creme für mein hochrotes Gesicht im Sportunterricht, was ich allerdings nie ausprobierte.

Und wie ich die Zeitschriften-Cover, Werbeplakate und Werbespots hasste! Ich empfand es als völlig unrealistisch, welche Körper dort als normal bzw. erstrebenswert angepriesen wurden. Natürlich wollte ich auch so aussehen, aber mir schien es wie ein völlig utopisches Ziel. Es war in meinen Augen ein Vorführen, was nicht geht. Eine Provokation.

Wampe und Oberschenkel-Döner

Die bauchfreie Oberteile tragenden Mädchen in der Schule hielten sich irgendwann vornehm zurück – immerhin. Obwohl ich mir trotzdem von meiner damals besten Freundin in der siebten/achten Klasse anhören musste, dass ich ja „eine ganz schöne Wampe“ hätte. Ich solle aber trotzdem mal „engere Sachen“ anziehen.

Insgesamt hatte ich trotzdem noch ganz gute Karten, auch wenn es sich zeitweise nicht so anfühlte: Die Schule fiel mir immer sehr leicht, ich war engagiert, hatte Freunde und recht zeitig auch einen Freund. Ich war nie lange Single.

Das hielt aber die Jungs in meiner Klasse trotzdem nicht davon ab, mich zu ärgern. Meist ignorierte ich die Sprüche wie: „Kann man von deinen Oberschenkeln auch Döner machen?“ Manchmal sagte ich etwas zurück. Doch sonderlich spontan war ich damals nicht.

Erst mit zunehmendem Alter hörten die Sprüche auf. Vielleicht wurde es ihnen langweilig, da ich zu wenig Reaktion zeigte.

Schließlich gab es bessere Opfer.

Eine damalige Freundin war nicht nur ebenfalls kräftig, nicht dick, sondern hatte auch noch mit den Noten zu kämpfen. Als ich sie verteidigte, schienen die Jungs etwas mehr Respekt vor mir zu haben und ließen uns beide weitgehend in Ruhe.

Es gab im Laufe der Schulzeit auch Phasen, in denen ich mich mal ganz gut fand. Das lag dann im Zweifelsfall an meinem Freund, der mir Selbstvertrauen spendete.

Die Höchststrafe? Sportstudentenpartys!

Später kam ich mit einem Sportstudenten zusammen. Es mag ein Klischee sein, aber in den meisten Fällen geht das für das Weibchen nicht gut aus!

Mir jedenfalls raubten diese zweieinhalb Jahre viel Selbstvertrauen.

Welches Mädchen will schon mehr Bauch haben als ihr Freund? Unsportlicher sein? Achtung, Höchststrafe: Auf Partys weniger attraktiv als die ganzen anderen hübschen Sportstudentinnen sein?

Inspiriert von meinem dazugelernten Wissen über Sport und Ernährung nahm ich in den letzten Jahren vor dem Abi tatsächlich ab. Gerade in der Zeit zwischen Abi und Studium hatte ich jede Menge Zeit, um Joggen zu gehen und Kraftübungen zu machen.

Wurde ich dadurch selbstbewusster? Vielleicht auf den ersten Blick, aber hinter der Fassade: Nein.

ich Collage teil 1

Im Studium hatte ich weiterhin viel Zeit und trieb viel Sport. Ich war sogar ziemlich fit. Trotzdem hatte ich nie das Gefühl, jetzt wirklich gut auszusehen.

Las chicas mexicanas

Mein Auslandssemester Ende 2008 verbrachte ich in Mexiko. Ich weiß nicht, ob du jemals eine mexikanische Frau gesehen hast, aber sie sind ziemlich klein und schmal.

Zwar ist Mexiko auch ein dem Fast Food geschuldetes, schwergewichtiges Land. Die Elite an der Privatuni, wo ich war, hat jedoch einen Personal Trainer und kann sich gesundes Essen leisten. Sie waren im Schnitt einen Kopf kleiner und 20 Kilo leichter als ich.

in mexiko

Du kannst dir vorstellen, dass das mein Selbstbewusstsein nicht gerade steigerte.

Wenn ich heute Fotos von damals sehe, finde ich mich ziemlich schlank. Doch es fühlte sich nicht so an.

Wie die Wahrnehmung sich verschiebt!

Nach dem Studium arbeitete ich zwei Jahre in Patricks damaliger Agentur, ging ins Fitnessstudio, fühlte mich ganz okay, hatte aber trotzdem phasenweise mit abendlichen Fressattacken zu kämpfen.

Im Masterstudium fuhr ich dann sehr viel Rad, weshalb einige Kilos purzelten.

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Happy End?

Im Gegenteil – und das sage ich nicht, um Mitleid zu erhaschen. Ich schreibe das für alle diejenigen, die denken, dass mit ein paar Kilo weniger alles gut wird.

Ich wog Ende 2012 ein paar Kilo weniger. Ich war schlank durch meine Fahrrad-Pendelei zur Uni und eine regelmäßige Laufgruppe.

langlauf

Trotzdem ging es mir mental schlecht. Das lag am Pendeln, an der Wohnsituation und einem neuen Job, der mir jedes Körnchen meiner Kraft abverlangte.

Ich steuerte geradewegs in ein Burnout hinein.

Darüber werde ich ein anderes Mal ausführlich schreiben, doch nur so viel: Mein Gewicht änderte daran nichts. Warum auch?! Wer in eine depressive Episode abrutscht, kann nichts mehr schätzen, ist erschöpft und zieht sich zurück. Sport half mir zwar, konnte aber nichts aufhalten.

Auf die Waage stellte ich mich damals nicht. Ich war viel zu beschäftigt mit meinen Sorgen, Ängsten, mit Frust und Erschöpfung.

Und dann?

Ich gab mir selbst nochmal den Rest, indem ich meinen Masterabschluss beschleunigte, um den neuen (jetzt festen) Job an der Uni anzutreten. Es ging mir immer schlechter.

Nach einem halben Jahr zog ich die Reißleine bzw. meine Hausärztin. Ich begann eine Therapie und lernte erst einmal wieder auf mich und meinen Körper zu hören.

Ich erzählte meiner Therapeutin auch von meinem mangelnden Selbstbewusstsein und meinen Zweifeln in Bezug auf meinen Körper. Dazu sagte sie nur: „Das haben fast alle Frauen. Ich denke, das ist momentan nicht vordergründig. Wir sollten daran nicht herumtherapieren, sondern Ihnen erstmal helfen, Kraft zu schöpfen. Dann wird sich das von alleine geben.“

Im ersten Moment verletzte mich diese Haltung. Schließlich hatte ich jahrelang daran zu knabbern gehabt. Aber es war selbstverständlich nicht der Grund für meine Krankschreibung gewesen.

Aufbau Kopf

Meine Hausaufgaben nach den wöchentlichen Sitzungen waren u.a. mich bei Freunden zu melden, Dinge zu tun, die mir früher Spaß gemacht hatten und mich nicht unter Druck zu setzen. Das half tatsächlich, obwohl mich natürlich permanente Zweifel quälten.

Meine Familie und mein Freund waren zum Glück sehr geduldig mit mir. Auch die regelmäßigen Treffen mit Patrick halfen mir, um Inspiration, Kraft und Selbstbewusstsein zu schöpfen.

Meine Therapeutin empfahl mir etwas mit den Händen zu tun, um das Gedankenkarussell anzuhalten. Ich fing also an wieder regelmäßig zu kochen.

Sie riet mir außerdem Sport zu treiben, da dieser nachgewiesenermaßen gegen Depression helfe. Ich ging viel Joggen, allerdings zu viel, wie ich an anderer Stelle bereits erwähnt habe.

Die Kombination aus dem wiederbelebten sozialen Leben, der Lektüre inspirierender Bücher und einer gesunden Lebensweise ließen mich nach einigen Monaten wieder besser fühlen.

Die Idee zu Healthy Habits entstand.

Über einen Zufall kam ich ein paar Monate später zum Bootcamp-Training. Es ist das intensivste, aber auch wirksamste Training, das ich je gemacht habe. Ich nahm nochmal ein paar Kilo ab. Nun befinde ich mich auf meinem gefühlten Idealgewicht.

ich Collage teil 3

Henne oder Ei?

Es war mir jedenfalls noch nie so egal, wie viel ich wiege.

Ist das nicht paradox? 15 Jahre lang habe ich von meinem jetzigen Gewicht geträumt und jetzt bin ich der Meinung, dass Wiegen eher kontraproduktiv ist. Öfter als einmal in sechs bis acht Wochen wiege ich mich nicht.

Vielleicht ist mir die Anzeige auf der Waage auch deshalb so egal, weil ich mich gut fühle. Oder fühle ich mich gut, weil ich mit der Anzeige zufrieden bin?

Ich glaube mittlerweile, dass Zufriedenheit einen schlanken Körper bewirkt und nicht umgekehrt.

Da ich nun einer erfüllenden Arbeit nachgehe, meine sozialen Kontakte pflege und einen Sport ausübe, der mir Spaß macht, fühle ich mich körperlich so gut wie noch nie.

Das macht alles so viel einfacher. Endlich nicht mehr ständig den Bauch einziehen oder Skrupel vor einem Strandfoto haben.

hot springs ranong

So, nun kennst du meine Geschichte. Ich glaube, ich bin immer noch kräftig, nicht dickMein Körperbau ist nicht so zart und schmal wie der von meinen damaligen Mitschülerinnen.

Manchmal tröste ich mich immer noch damit, dass ich wenigstens einen Bierkasten heben, ein Marmeladenglas öffnen und beim Umzug ordentlich anpacken kann.


Wenn du magst, erzähl mir deine Geschichte. Schreibe einfach einen Kommentar. Ich würde mich freuen und bin gespannt auf deine Erfahrungen.

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