Was Hochsensible besonders gut können

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Bei vielen Texten über Hochsensible (HSPs) geht es um Problemlösung und Alltagsbewältigung. Kein Wunder, denn HSPs ticken anders und stoßen im Alltag oft an ihre Grenzen. Wie auch Patrick und ich zweifeln Hochsensible deshalb oft an sich, analysieren ihre Schwächen, lesen Ratgeberliteratur und beschäftigen sich mit Selbstoptimierung. Wir sind gut darin Fehler aufzuspüren, nach Perfektion zu streben und über uns selbst zu reflektieren. Das begünstigt den Fokus auf die eigenen Makel.

Nichts gegen Selbstkritik, nichts gegen Wachsen-wollen – aber das Selbstwertgefühl bleibt irgendwann auf der Strecke. Nicht nur deshalb sollten wir uns zur Abwechslung unsere Stärken vergegenwärtigen – auch wenn sie sich für HSPs selbstverständlich anfühlen.

In diesem Beitrag möchte ich ein paar der zahlreichen Stärken von Hochsensiblen aufzeigen. Ich glaube, die Liste könnte manche HSPs in einem schwachen Moment aufmuntern. Sie könnte zur Aufklärung bei Neulingen in dem Thema oder bei Angehörigen beitragen. Vielleicht erkennst auch du dich in dem einen oder anderen Punkt wieder.

Manche der folgenden Stärken zeichnen auch Nicht-Hochsensible aus, die sich von diesem Beitrag ebenfalls gern angesprochen fühlen dürfen.

Es würde sich für mich unvollständig anfühlen, wenn ich die Schattenseiten mancher Stärken unerwähnt ließe. Trotzdem bleibt die ausdrücklich positive Botschaft:

Die Stärken von Hochsensiblen sind so vielfältig wie nützlich für die Gesellschaft, auch wenn das im alltäglichen Lärm untergeht.

1. Besondere Sinneswahrnehmung

Es ist die Eigenschaft von Hochsensiblen, die meist zuerst genannt wird: HSPs haben oft besondere Fähigkeiten in Bezug auf ihre Sinneswahrnehmung. Manche verfügen über ein absolutes Gehör (und können deshalb die Höhe eines beliebigen Tones bestimmen). Andere können auf Anhieb eine weit entfernte Geruchsquelle identifizieren. Eine Freundin erzählte mir beispielsweise von jemandem, der geringste Farbabweichungen bei Bildschirmen oder Brillengestellen mit bloßem Auge erkennt.

Nicht immer macht diese Stärke das Leben leichter, denn ein unangenehmer Geruch oder ein noch so leises Fiepen würde man auch gern ausblenden. Trotzdem gibt es viele Gründe diese Eigenschaft zu schätzen, denn beispielsweise ist sie in vielen Berufen ein großer Vorteil.

2. Sinn für Ästhetik

Manche Hochsensible haben ein besonderes Gespür für zusammenpassende Farben, Stile, Schnitte und Muster. Sie wissen instinktiv, welche Schriftart am besten passt, welche Bildaufteilung besonders angenehm für den Betrachter ist, welches Möbelstück das Zimmer vervollkommnen würde usw.

Ich denke bei diesem Punkt sofort an die Instagram-Fotos einer befreundeten Fotografin. Ihre Fotos von anderen, ihrer Wohnung und sich selbst zeigen, dass sie einen außergewöhnlichen Sinn für Ästhetik hat. Für ihre Fotos sind sicher weitere hochsensible Stärken zuträglich, z. B. sich vertiefen zu können und nach Perfektion zu streben. Dazu kommen wir gleich noch.

3. Gutes Zuhören / Merken von Details

HSPs mögen Tiefe – auch bei Gesprächen. Einmal in ein Gespräch verwickelt, merken sie sich oft Details, die anderen entgehen. Sie sind gute Zuhörer, weil sie Reize intensiver verarbeiten als Nicht-Hochsensible. Sie wissen noch Monate später, was jemand gesagt, gegessen oder getragen hat. Das vermittelt dem Gegenüber oft das angenehme Gefühl von Interesse und Anteilnahme.

Manchmal hat diese Gabe den Nachteil, dass HSPs schlecht mit viel Input (z. B. vielen Gesprächen) zurechtkommen. Wenn mein Kopf abends rattert und erst alles einsortieren will, lässt der Schlaf auf sich warten. Außerdem können HSPs wenig mit Small Talk anfangen. Sie unterhalten sich meist lieber (unter vier Augen) über echte Themen, als (in Gruppendiskussionen) an der Oberfläche zu bleiben. Außenstehende nehmen HSPs daher manchmal als unnahbar oder arrogant wahr.

Trotzdem ist das Merken von Details in vielen Bereichen sehr nützlich. Ob im Job oder in zwischenmenschlichen Beziehungen – es gefällt dem Gegenüber, wenn sich der Gesprächspartner noch an die Stories aus den letzten Jahren erinnert.

4. Sich vertiefen können

HSPs beschäftigen sich gern mit einer Sache im Detail und können sich problemlos stundenlang vertiefen. Demgegenüber liegt es Hochsensiblen meist nicht, viele verschiedene Dinge parallel zu machen und für nichts Zeit zu haben (Scanner-Persönlichkeiten ausgenommen).

Ich habe bereits das Flow-Gefühl beschrieben, das ich beim Arbeiten an Herzensprojekten erlebe, z. B. wenn ich einen langen Artikel schreibe, Websites baue oder wie früher Puzzles mache. Obwohl es teilweise geistig anspruchsvolle Tätigkeiten sind, fühle ich mich danach energiegeladen. Andererseits stört es mich unterbrochen zu werden.

Wer sich gern in Dinge vertieft, lernt übrigens auch relativ leicht Neues. Bei Hochsensiblen ist das auch noch im Alter der Fall. Es sind wahrscheinlich viele Hochsensible, die als Rentner in Fremdsprachenkursen sitzen, Zeichen- oder Tanzkurse belegen.

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5. Analysieren

Manche Hochsensible haben ein besonderes Talent für Analysetätigkeiten, sei es z. B. als Wirtschaftsprüfer oder Lektor. Dabei hilft die genaue Sinneswahrnehmung und die Fähigkeit sich zu vertiefen.

Patrick ist beispielsweise ein Zahlenmensch. In seiner Agentur war er früher für das Controlling verantwortlich und nahm die Rentabilität der einzelnen Geschäftsbereiche unter die Lupe. Daraufhin sprach er auch unbequeme Wahrheiten aus, wie z. B. das Geschäftsfeld XY lohnt sich nicht. Das ist ein Beispiel für die typischerweise hochsensiblen stillen Berater, die in der HSP-Literatur häufig auftauchen.

Patrick ist aber auch bei Texten sehr genau. Er prüft die Argumentation bei Konzepten, Artikeln oder Manuskripten auf Herz und Nieren. Vielen Nicht-Hochsensiblen würde dafür die Geduld fehlen.

6. Meta-Denken / Reflexion

HSPs sind gut im Nachdenken über ihre und fremde Gedanken. Sie hinterfragen Dinge und können über ein und dasselbe Thema in verschiedene Richtungen argumentieren. Manchmal fallen mir drei verschiedene Begründungen für meinen eigenen Gedankengang ein – ohne gezielt darüber nachzudenken oder eine Verwendung dafür zu haben.

Nicht zuletzt gehör(t)en deshalb auch viele Dichter und Denker zu den Hochsensiblen. Wer sonst hat die Motivation zu philosophischen Diskussionen, die auch ernüchternde Wahrheiten zutage fördern? Mit hochsensiblen Freunden führe ich deshalb die interessantesten Gespräche. Ich will aber auch nicht leugnen, dass Meta-Denken manchmal ein nicht enden wollendes Gedankenkarussell antreibt.

7. Vorstellungskraft

Kreative und Künstler sind meist hochsensibel. Sie können sich (auch ohne bewusstseinsverändernde Substanzen) in Sphären versetzen, die manch Anderem verschlossen bleiben. Aber nicht nur sie profitieren von ihrer außerordentlichen Vorstellungskraft. Auch Wissenschaftler, Entdecker und Erfinder brauchen sie.

Ich weiß noch, wie mein Bruder im Alter von ca. 13 Jahren mir (mit 11 Jahren) eines Abends im Bett die Geometrie von gleichwinkligen Dreiecken erklärte – ohne Licht, Papier oder Stift. In dieser Zeit fing er auch an sich mit Matrizenrechnung zu beschäftigen, lange bevor er es in der Uni lernen würde. Er konnte es sich eben anlernen und irgendwie vorstellen.

8. Empathie

Viele HSPs haben eine besondere Sinneswahrnehmung im zwischenmenschlichen Bereich. Sie spüren sofort, wenn es dem Gegenüber nicht gut geht – auch wenn dieser es vielleicht selbst noch nicht weiß. Sie fühlen, was in einem Raum vor sich geht, auch wenn nicht gesprochen wird.

Klar ist: Wir brauchen Menschen mit Mitgefühl, denn Einfühlungsvermögen ist eine wichtige Gabe u. a. in zwischenmenschlichen Beziehungen, in sozialen, medizinischen und therapeutischen Berufen sowie in der Gesellschaft generell.

Ich weiß noch, wie mir in der Schule eine Mitschülerin leid tat, die immer schlechte Noten samt einer Portion Verachtung durch die Lehrerin kassierte. Ich gab ihr Nachhilfestunden, doch das half nur wenig. Dann erzählte sie mir von ihrer Mutter, die sie misshandelte. Natürlich ließ mir das keine Ruhe. Gemeinsam mit meiner Mutter unterstützte ich das Mädchen dabei sich Hilfe zu suchen und irgendwann die Schule zu wechseln, da sie mit den Noten auf keinen grünen Zweig kam. Letztendlich war diese Geschichte einer der Gründe, weshalb ich keine Lehrerin geworden bin. Ich wusste, dass ich mit solchen schwierigen Fällen nicht zurechtkommen würde, dass sie mich nicht schlafen lassen würden. Aus heutiger Sicht glaube ich, dass ich damit richtig lag.

Empathie ist in meinen Augen der größte HSP-Segen und -Fluch zugleich. Sie belastet, wenn das Abgrenzen gegenüber anderen Menschen schwer bis unmöglich scheint, wenn HSPs ihre eigenen Gefühle mit fremden verwechseln, wenn der Weltschmerz zuschlägt. Vielleicht ist es aber auch das Los der HSPs ein bisschen für andere mitzuleiden, damit solchen Menschen wie der Mitschülerin geholfen wird.

9. Fehler finden / Streben nach Perfektion

Viele HSPs sind besonders begabt darin Fehler bei sich und anderen aufzuspüren. Das ist beispielsweise eine wichtige Fähigkeit eines Software-Entwicklers, der in seitenlangem Quellcode den Tippfehler findet. Die Buchhaltungsabteilung profitiert, wenn der hochsensible Mitarbeiter den Zahlendreher entdeckt. Verlage verlassen sich auf Korrekturleser.

Ein Freund von mir ist beispielsweise Korrektor. Es macht ihm Spaß die Feinheiten der Rechtschreibung und Grammatik zu durchdenken und beispielsweise Wortwitze („Sprachschmankerl“) zu twittern. Den meisten Menschen würden die Kleinigkeiten entgehen, die ihn (und mich manchmal auch) zum Grinsen bringen.

Auf die Gefahren des Perfektionismus brauche ich hier sicher nicht ausführlich eingehen. Darüber habe ich an anderer Stelle geschrieben. Doch erwähnen möchte ich, dass der Fehler-Aufspürmodus das Leben manchmal erschwert, z. B. wenn ein HSP vor lauter Makeln in seiner Umgebung nichts mehr schätzen kann oder wenn er nicht abschalten kann.

In „The Happiness Advantage“ beschreibt Shawn Achor beispielsweise einen Wirtschaftsprüfer, der seine Arbeit auch zu Hause fortsetzte: Er dokumentierte die Fehler seiner Frau mit Excel-Tabellen. Sicher gehörte er zu den besten seines Fachs, überschritt aber die Grenzen seiner Zuständigkeitsbereiche.

10. Gerechtigkeitssinn/Gewissenhaftigkeit

Die meisten HSPs sind von Haus aus mit einem sensiblen moralischen Kompass ausgestattet. Sie handeln äußerst ungern wider ihres Gewissens und kommen nur sehr schwer mit Ungerechtigkeit klar. Klar, dass die Gesellschaft davon profitiert!

Manchmal kann Gewissenhaftigkeit auch zu vorauseilendem Gehorsam werden. Solange sich HSPs davon aber nicht geißeln lassen, hat diese Stärke sehr viele Vorteile.


Mehr über Hochsensibilität hier im Blog:

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Foto: Frau sieht aus dem Fenster von Shutterstock

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