Diese Woche habe ich mich in unserem Newsletter ganz schön in Rage geschrieben. Ich habe dafür plädiert öfter ehrlich zu sein. Die Hosen runterzulassen. Sich nackig zu machen. Mit „Kräftig. Nicht dick.“ habe ich den Anfang gemacht. Besser gesagt hat Patrick mit seiner Zucker-Geschichte angefangen.
Wir haben nicht immer Erfolgsgeschichten zu erzählen bzw. geht den Erfolgen jahrelanges Scheitern (z. B. beim Abnehmen) voraus. Deshalb fällt uns das Schreiben nicht immer leicht, auch wenn es einen anderen Eindruck macht.
Doch auch das Feedback auf „Kräftig. Nicht dick.“ hat mich in dieser Offenheit wieder einmal bestärkt. Von verschiedenen Seiten bekam ich Zuspruch – nicht immer über öffentliche Kanäle. Auch über Whatsapp und Facebook-Nachrichten.
Es sind zum Teil sensible Themen, zu denen sich nicht jeder öffentlich äußern möchte. Das ist okay. Trotzdem wäre uns allen mit mehr Offenheit und Ehrlichkeit geholfen. Ich erzähl dir gern warum. Dazu zitiere ich zunächst einige Passagen aus dem Newsletter von gestern.
Warum wir Verschleierungskünstler sind
Wir geben uns große Mühe, um zu verschleiern, wie es uns wirklich geht, was wir wirklich tun oder wie wir wirklich aussehen. Dafür tragen wir Sonnenbrillen, Make-up und Bauch-weg-Hosen. Für den Rest gibt es Photoshop und Stockfotos.
Tiere tun das in ähnlicher Art und Weise unter bestimmten Umständen. Wir erinnern uns: der Mensch stammt vom Affen ab. Bei Anwesenheit eines Feindes oder bei der Gelegenheit zur Paarung verheimlichen Vögel beispielsweise, wenn es ihnen schlecht geht. Andernfalls würden sie vom Schwarm ausgegrenzt bzw. vom Weibchen ignoriert, denn ein Schwächling gefährdet das Überleben aller. Also plustern sie sich auf, verschleiern ihren Gewichtsverlust und überspielen damit ihre Erkrankung. Alles andere wäre Selbstmord.
Wenn Stockfotos unseren Alltag widerspiegeln würden
Die Marketingwelt samt Stockfotos und Photoshop hat uns ganz schön versaut. Würde sie uns ein repräsentatives Abbild unseres Alltags vermitteln, müssten wir alle ständig vor Freude jauchzend in die Höhe springen, Daumen hochhalten, mit Freundinnen auf weißen Sofas verdauungsfördernden Jogurt löffeln, Maßbänder um unsere Wespentaille legen und dabei beherzt in Äpfel beißen.
Gut, dass wir privat gleich mit der Augenwischerei weitermachen.
Auf Twitter, Facebook und Instagram posten wir Fotos von unseren flippigen Getränken (können wir uns leisten!) in hippen Bars (wir kennen die Insider!) zusammen mit anderen, nicht weniger hippen Menschen (klar, dass wir nicht alleine sind!).
Am Tag danach: ein gekonntes, den Kater inszenierendes Schwarz-Weiß-Vintage-Foto mit heißer Zitrone, stylisher Trainingshose und Wuschelfrisur. Soll doch niemand denken, dass wir halb 11 nach Hause gegangen wären!
Auf Fotos in jedem Fall unverfänglich ist entweder ein breites Grinsen oder ein Knutschmund – Hauptsache positiv! (Erwischt – Ich nehme mich da nicht aus.)
Plustern wir uns doch nicht so auf!
Es ist unsere Art uns aufzuplustern. Wir wollen uns gegenseitig beweisen, welch tolle Hechte wir doch sind.
Wer redet schon von den hässlichen Seiten des Lebens und den schwachen Momenten? Wer gibt schon zu, dass wir manchmal so schlecht drauf sind, dass uns einfach nicht zu helfen ist? Ich will niemandem depressive Gedanken einreden, aber schwache Momente hat jeder.
Lass uns über die Zweifel und die nächtlichen Grübeleien reden. Somit helfen wir nicht nur uns selbst, sondern geben auch anderen Menschen das Gefühl nicht allein zu sein.
So schnell wird uns die Herde schon nicht gleich im Stich lassen.
Selbstzweifel – Das haben wir davon
Warum ich für häufigeres Hosen-Runterlassen bin? Weil wir sonst die falschen Signale aussenden und uns damit selbst schaden:
Da uns ständig die perfekte Welt vorgelebt wird, zweifeln wir an uns selbst. Wir wähnen uns zu schwach, zu schlecht oder zu [beliebiges negatives Adjektiv]. Ich beobachte das Phänomen in meinem Freundeskreis und bei mir selbst.
Dabei sind wir in der Regel gut ausgebildet, haben einen Job, keine finanziellen Probleme und sehen auch ganz gut aus. Trotzdem zermartern wir uns.
Was wirklich ehrlich wäre
Wenn wir schon meinen, etwas posten zu müssen, dann wäre doch ein Foto von einem faulen und überhaupt nicht stylishen Couch-Potato-Nachmittag (bei strahlendem Sonnenschein) wirklich ehrlich, weil es zu einem 12-Kilometer-Runkeeper-Lauf nicht gereicht hat.
Das ist ein Post, der in 90 Prozent der Fälle authentisch wäre.
Aber es geht mir weniger um die Statusupdates, auf die wir im Zweifelsfall sowieso verzichten könnten. Es geht mir auch um die Gesprächsinhalte mit Freunden und der Familie.
Ehrlich wäre, wenn wir über folgende Themen reden würden:
- über Gewissensbisse nach einem Eis, einer Tafel Schokolade (oder zwei oder drei), der x-ten Kühlschrankplünderung aus Frust, Langeweile oder Einsamkeit oder dem alkoholischen Getränk, das eigentlich nicht hätte sein müssen,
- über den Kampf gegen die magisch anziehende Fernbedienung am Abend und am Wochenende,
- über die inneren Streitgespräche, ob wir zum Sport gehen oder nicht,
- über die Trägheit, die uns vor einer Party oder einer Einladung zu Freunden befällt und die Male, bei denen wir eine Ausrede erfunden haben, um zu Hause bleiben zu können,
- darüber, wie viele Stunden wir mit Online-Serien oder Computerspielen verstreichen lassen und wie wir uns manchmal schlecht deswegen fühlen,
- darüber wie oft wir eine oder mehrere Personen bei Facebook hinterherstalken und wie froh wir sind, dass wir als Besucher eines Profils unerkannt bleiben (nicht wie früher bei StudiVZ),
- dass wir morgens als erstes und bei jeder weiteren Gelegenheit reflexartig zum Handy greifen und unsere Emails checken, weil wir sonst nicht wissen würden, was wir mit unseren Händen (und den Gedanken) anstellen sollen,
- über depressive Phasen, in denen wir keine Lust auf nichts und keine Kraft zu gar nichts haben,
- über unsere Angst zu versagen oder nicht gut genug zu sein – dem Uniabschluss oder Lob des Chefs zum Trotz,
- über die Bedenken, ob und wie wir schnell genug in der Karriere vorankommen,
- über die Zweifel, ob es für Kinder nicht langsam Zeit / noch zu zeitig ist und was das für die Job-Chancen bedeutet.
Du siehst, aus vielen Themen heraus habe ich auf bestehende Artikel von uns verlinkt. Es sind die Themen, die auch uns beschäftigen. Zum Glück betreffen uns (hoffentlich) nicht alle Themen. Oder vielleicht doch?
Du bist herzlich eingeladen, deine offenen und ehrlichen Gedanken im Kommentar zu hinterlassen. Ich freu mich drauf.
Foto: Selfie-Teenager von Shutterstock
Hi Jasmin,
Warum haben wir nur immer dieses perfekte Person im Kopf und kämpfen uns ab, um dem Idealbild zu entsprechen?
Ist das die Motivation, die wir brauchen?
Der Druck von außen?
Sicher nicht! Motivation entsteht, wenn wir etwas machen, das wir lieben.
Wenn wir morgens aufwachen und uns auf die nächste Aufgabe freuen.
Wenn wir uns Herausforderungen stellen, die wir auch meistern können.
Wenn wir “unser Ding” machen, zeigen wir Haltung.
Und stossen alleine dadurch immer wieder auf Irritation und Kritik von anderen.
Doch hier ist der Unterschied:
Wenn wir das tun, was uns entspricht, wissen wir instinktiv, dass es das richtige ist.
Wir wollen plötzlich nicht mehr gefallen, erzählen keine frisierten Erfolgsgeschichten.
Wir sind echt.
Echt in dem, was wir tun.
Und das merken auch die andern.
Unwiderstehlich!
Liebe Grüße,
Sabine
Hi Sabine,
inspirierende, wahre Worte! Schade, dass solche Erkenntnisse immer erst so spät kommen oder? :-)
Liebe Grüße
Jasmin
Wunderbar – danke für so viel Ehrlichkeit! Es freut mich, dass ich nicht die Einzige bin, die sich so fühlt. Dafür gibt ein fettes LIKE und DANKE! :)
Danke, Annika, für so viel Lob!
Ein toller Artikel – tut gut, auf einem Blog einmal solch ehrliche Worte zu lesen. Vielen Dank dafür! :)
Ich bin älter als die meisten hier und kenne noch Zeiten ohne Internet. Die Probleme, die du ansprichst, gibt es im realen Leben auch, aber dort treten sie nicht so gravierend auf wie in der ‚
virtuellen Welt. Es ist IMMER besser, jemandem in die Augen schauen zu können. Oder wie Bob Geldof mit den Boomtown Rats schon 1978 sang: ‚Don’t believe what you read‘ ;)
Ist irgendwie nicht ganz logisch, das in einem Kommentar eines Internet-Blogs zu schreiben, aber ich empfehle wirklich: PC aus – jemanden anrufen, an den man in letzter Zeit oft gedacht und den man wenig gesehen hat – ein Treffen vereinbaren. Immer besser als sich nur *zu lesen*. :)
Hallo Susanna,
vielen Dank für dein Lob! Ja, ich bin auch dafür. Leider wird es eine Weile dauern, bis diese Bewegung zurück, weg von den digitalen Medien, zu der Mehrheit der Menschen durchgesickert ist…
Viele Grüße
Jasmin
Hallo Jasmin,
das Phänomen, dass alle nur positive Dinge posten, erzeugt übrigens die sogenannte Facebook-Depression: „Alle sind so glücklich, nur ich nicht.“ Das ist die Schattenseite des Ganzen. Wenn jemand aber etwas Trauriges postet, kommt entweder Mitleid oder eben der Vorwurf, dass man Aufmerksamkeit benötigte – aber ist das so schlecht und falsch? Ganz sicher nicht. Deshalb bin ich hoffnungsvoll, dass Menschen eines Tages wieder mehr in der analogen Welt leben. Und deswegen finde ich es übrigens auch interessant, wenn eine Platform im Internet zwischenmenschliche Beziehung in der echten Welt zur Folge hat (etwa wie bei Couchsurfing).
Alles Liebe,
Philipp
Hallo Philipp,
ja, ich bin gespannt, ob es irgendwann eine Welle geben wird, die wieder in Richtung Offline schwappt. Aber da müsste sich schon einiges drehen bis dahin :-)
LG Jasmin
Danke für diesen Artikel! Ich habe auch gemerkt, dass ich oft bei meinen Social Media Kanälen auf diese Perfektion-Welle bin und dann das Gefühl habe, dass das Ganze nicht ganz ICH ist. Alles zu schön und leicht. Und nicht authentisch. Ich von auch dafür, mehr verletzliche ungerechte Seite zu zeigen und werde es auch langsam umsetzten. Habe es ja von Botox und falschen „Schönheit“-Tricks weggeschafft, dann klappt das ja auch ;)
Danke Victoria,
schön dass du dich so wiedererkennst :-)